Lost Girl - im Schatten der Anderen by Ravensburger

Lost Girl - im Schatten der Anderen by Ravensburger

Autor:Ravensburger
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Ravensburger
veröffentlicht: 2012-05-13T16:00:00+00:00


9. Flügel

Wochenlang war Lekha für mich nur eine Mitschülerin aus Amarras Klasse. Aber als ich eines Nachmittags nach der Schule im Coffee Day neben ihr sitze, am selben Tisch, an dem Amarra manchmal mit Sonya und Jaya saß, dämmert mir, dass sie weit mehr ist als das. Sie ist meine Freundin.

Sie bringt mich zum Lachen, häufig auf ihre Kosten, was ihr aber nichts ausmacht. Außerdem hört sie nur selten auf mich. Ich kann ihr noch so oft sagen, dass »Palästrina« ein Komponist ist, sie beharrt darauf, dass ich mich irre und es sich um ein Land im Nahen Osten handele. Ich gebe trotzdem nicht auf. Sie hat auch kein Geschick für sprachliche Bilder, verwendet aber ständig welche.

Außerdem sieht sie die Dinge unglaublich klar. Das begreife ich, als sie eines Tages sagt, sie habe von Anfang an durchschaut, dass ich nicht Amarra sei.

»Es liegt an der Art, wie du dich bewegst«, sagt sie. »So rasch, als ob du jederzeit wegrennen wolltest. Oder die Krallen ausfahren und dich verteidigen. Wie ein verletztes Wolfsjunges. Verloren, aber bissig, verstehst du?«

Sie zeigt mir Orte in der Stadt, an denen ich noch nicht war. Restaurants, Dachterrassen, niedliche kleine Läden und riesige Kaufhäuser. Wir gehen in Multiplex-Kinos, kaufen bei Straßenhändlern Erdnüsse und besuchen noble Bars und hoffen, dass uns niemand nach dem Alter fragt, wenn wir Drinks mit langen, exotisch klingenden Namen bestellen. Mehr als einen oder zwei trinken wir nie, weil sie teuer sind und wir nicht viel Geld haben. Wir sitzen in der heißen Sonne und entwerfen Kostüme für berühmte literarische Gestalten: Lekha denkt sie sich aus und ich zeichne sie. Wir rennen im Regen durch Pfützen und winken verzweifelt einer Autorikscha. Ich lerne schnell, dass der Preis, den ein Rikschafahrer verlangt, sich direkt proportional zu der Regenmenge verhält, die sich im entsprechenden Augenblick auf die Straße ergießt.

»Wenn wir so unterwegs sind, erinnerst du mich an einen Vormund von mir«, sage ich eines heißen Aprilabends in der letzten Schulwoche vor den Sommerferien zu Lekha. Sie vollführt auf der Stufe vor mir eine Pirouette und posiert albern, während ich versuche, sie zu zeichnen. »Sie ist genauso ein Dubbel wie du.«

»Ein neues Wort! Dubbel. Gefällt mir. Bedeutet es schön und charmant?«

»Eher nicht.«

»Schade.« Lekha hört auf sich zu drehen und versucht sich an einem etwas schiefen Plié. »Und? Was bedeutet es dann?«

»In Ophelias Fall«, sage ich lächelnd, »bedeutet es, dass sie das Herz am rechten Fleck hat, in ihrem Kopf aber ein ziemliches Chaos herrscht und ein paar wichtige Dinge fehlen.«

»Sie heißt Ophelia? Oje. Womit hat sie das denn verdient?«

»Ihr Vater ist ein Meister.«

»Ein gruseliger Typ?«

»Na ja«, sage ich. »Ich habe ihn einmal im Fernsehen gesehen und er strahlte eine Kälte aus wie jemand, der alles bekommt, was er will.«

Lekha gibt ihre Pose auf und setzt sich neben mich. »Eva«, sagt sie, denn sie hat mir inzwischen meinen richtigen Namen entlockt, »ich habe neulich jemanden aus der Klasse über die Meister reden hören und über die Jäger und dich. Über alles Mögliche. Ich höre sonst nicht zu, wenn die Leute über dich reden, aber diesmal klang es halbwegs wahr.



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