Weisse Wolken ueber gelber Erde (1980) by Tichy Herbert

Weisse Wolken ueber gelber Erde (1980) by Tichy Herbert

Autor:Tichy, Herbert [Tichy, Herbert]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 385 368 865 9
veröffentlicht: 2014-06-03T00:00:00+00:00


XIX.

Am nächsten Tag kamen wir nach San Ghen Kung, einem kleinen, armen Dorf, das irgendwo in den Alpen, Pyrenäen oder einem anderen katholischen Gebirge liegen könnte. Die Kirche stand stolz und beherrschend mit einem großen Garten und vielräumigen Gebäuden auf einem Hügel, und die kleinen Lehmhäuser drängten sich schutzsuchend um sie. Nur zwangen sie hier nicht gewaltige Berge, sondern sanfte, aber tödliche Sanddünen zur engen Nachbarschaft. Die Bauern waren schlecht gekleidet und hatten unfrohe Gesichter.

Wir tranken in einer Herberge Tee und Yang Samuda fragte einen Bauern: „Wie kommt es, daß ihr so finster ausseht? Ihr solltet frohe Gesichter haben. Gutes, fettes Land und viel Wasser vom Gelben Fluß. Wo Hegt euer Kummer?“

„Ah-ya, ah-ya“, seufzte der Bauer. „Du hast zu rasch geurteilt, Lama. Der Gelbe Fluß bringt nicht nur Wasser, er nimmt auch Land. Jedes Jahr frißt er sich zehn oder zwanzig Meter näher an uns heran. Ich habe schon die Hälfte meiner Felder verloren, sie sind den Gelben Fluß hinuntergeschwommen. In fünfzehn Jahren wird der Fluß die ersten Häuser erreicht haben. Und von der anderen Seite kommt die Wüste. Manchmal ist sie rascher als der Fluß, manchmal langsamer, aber sie steht nie still. Eines Tages werden säe sich im Dorf treffen. Lama, sollen wir wirklich fröhlich sein?“ Nach San Chen Kung fuhren wir an den Gelben Fluß heran und übersetzten ihn. Der Fluß war weit und sein Wasser von einem bräunlichen Gelb. Eine schwere Fähre aus ungefügem Holz stand bereit. Es war alles, wie es seit Jahrtausenden gewesen war.

Der Fluß: mächtig und still und ohne Eile. Seit undenklichen Zeiten hatte er die Geschichte Chinas bestimmt. Er war der Segen und die Sorge Chinas. In seinem Tal nahm vor vielen Jahrtausenden eine Kultur ihren Anfang, der heute ein Viertel der Menschheit angehört. Dynastien erstanden und fielen, der Name eines Kaisers erstrahlte hell über dem Himmlischen Reich und erlosch wieder, Eroberer ritten über die gute Erde und verschwanden wieder — der Gelbe Fluß aber war immer.

Die Fähre: sie mögen Brücken haben aus Holz, aus Stein und aus Stahl, aber vor ihnen war das Boot aus Holz. Ungefüg und primitiv, aber Holz, das schwimmt und Menschen trägt. Auch hier stand die Zeit still. Es war kein kunstvolles Boot, es war Holz, in Form gebracht und zusammengefügt, um Lasten und Menschen von einem Ufer ans andere zu tragen.

Und die Menschen: sie sind gelb und hart wie der Fluß. Sie sind an seinen Ufern aufgewachsen. Sein Silt hat ihre Felder fruchtbar gemacht und sein Wasser hat ihre Saaten ertränkt. Leben oder Tod, Sattsein oder Hungern, der Gelbe Fluß bestimmt ihr Schicksal und mit ihm sind sie seit jeher verbunden.

Zwanzig von ihnen waren bemüht, die Fähre ans andere Ufer zu bringen. Vielleicht hatten sie einen Kapitän, aber er trat nicht in Erscheinung, und jeder rief seine eigenen Kommandos und hörte nicht auf die der anderen. Fünf Mann arbeiteten an einem gewaltigen Ruder und bewegten mit mächtigen Schlägen die gelbe Brühe. Andere stachen mit langen Stangen nach dem seichten Grund und legten sich mit der Schulter dagegen, bis sie fast waagrecht in der Luft lagen.



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