HERKUNFT (German Edition) by Saša Stanišić

HERKUNFT (German Edition) by Saša Stanišić

Autor:Saša Stanišić [Stanišić, Saša]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Luchterhand Literaturverlag
veröffentlicht: 2019-03-18T07:00:00+00:00


GÄSTE

Im ersten Jahr in Deutschland hatte ich selten Gäste. Ich fand immer eine Ausrede, warum es gerade nicht ging. In unserer Bleibe in Wiesloch schliefen wir zu sechst in einem Zimmer. Das Haus war voll mit Fremden. Sie tauchten auf und verschwanden wieder, es hatte nicht einmal Sinn, sich einander vorzustellen, geschweige denn einen Schulfreund in diese Hölle auf Gewerbegebietserden einzuladen.

Im Emmertsgrund gab es mehr Platz – Ruhe blieb dennoch Glückssache. Nachmittags waren alle zu Hause. Meine Cousins, klein und heiter, Ex-Jugos kamen unangemeldet vorbei, wie sie es in Jugoslawien auch getan hätten, Ausweis guter Nachbarschaftskultur, aber auch extrem nervig, wenn man tags drauf eine Matheklausur schreiben sollte. Ich lernte mal am Wohnzimmertisch, mal am Boden. Irgendwann kaufte Vater einen Tisch für das Zimmer, in dem ich schlief. Das wollte ich jedenfalls glauben: dass der Tisch gekauft war.

Noch heute rede ich mir ein, dass es nur gute Gründe gab, keinen Besuch zu empfangen. Dass Platz und Stille fehlten, war das eine, und das begriffen die Freunde auch. Wussten sie aber auch von meiner Scham? Ich schämte mich wegen der alten Möbel, schämte mich, keine Spiele zu besitzen, keinen PC und auch kaum Musik (ein paar überspielte Kassetten, Metallica, Nirvana, Smashing Pumpkins). Ich schämte mich, dass bei uns von unterschiedlich gemusterten Tellern gegessen wurde und selten gemeinsam. Mit Messern, deren Klingen sich bogen.

Ich hasste das Gefühl, konnte aber nicht anders. Draußen hatte ich mit den mir auferlegten und den selbstgewählten Rollen kaum mehr Schwierigkeiten. Zu Hause wären sie aufgeflogen. Man sah ja, wie es uns wirklich ging.

Mutter und Vater schufteten sich traurig. 1994 verbrachte Vater einen ganzen Monat in einer Rehaklinik, Rücken kaputt. Ging am ersten Tag nach der Entlassung wieder auf den Bau, um genau dort weiterzumachen, wo der Rücken nicht mehr hatte mitmachen wollen. Er spürt bis heute die Folgen.

Die Eltern schonten sich nicht, mich aber. Die größten Probleme und Sorgen hielten sie von mir fern, sprachen selten von dem, was ihnen schwerfiel. Von ihren Entbehrungen und Niederlagen weiß ich erst seit Kurzem. Davon, was es wirklich bedeutete, mit Mitte dreißig ein gefestigtes Leben zu verlassen und jetzt mit dem Vermieter darüber zu streiten, ob wir Tomaten im Garten anpflanzen dürfen.

Beide hatten sie Berufe aufgeben müssen, in denen sie sich auskannten und gerne arbeiteten. In Deutschland hätten sie so ziemlich jeden Job angenommen, um nicht unterzugehen. In unserem jugoslawischen Freundeskreis war es überall so. Von der Not wussten die Arbeitgeber zu profitieren. Die Löhne waren niedrig, Überstunden meist unfreiwillig und unbezahlt. War das diskriminierend? Meine Eltern könnten es nicht sagen. War es erbärmlich? Auf jeden Fall.

Das Einkommen reichte selten, um sich nebenbei aus- oder weiterzubilden. Für Sprachkurse, die Basis also, blieben wenig Zeit und Kraft. Es gab dennoch nicht wenige, die sich nach der Arbeit noch zwei Stunden Flexion deutscher Verben mit Blasen an den Füßen reinzogen. Ein Ausweg aus der Abhängigkeit gelang aber oft nicht, oder es war zu spät – die Abschiebung kam zu früh.

Ich sehe am eigenen glücklichen Beispiel, wie breitflächig die strukturelle Benachteiligung der Geflüchteten damals war und heute noch ist.



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