Der Gelbe Schein - Mädchenhandel 1860-1930 by Stratenwerth Irene

Der Gelbe Schein - Mädchenhandel 1860-1930 by Stratenwerth Irene

Autor:Stratenwerth, Irene [Stratenwerth, Irene]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783000388019
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


A. Litvak: „Das Ganze roch nach Provokation“[81]

Früh am Abend konnte man sehen, wie auf der Nowolipie-, Karmelicka- und Nowolipki-Straße eine etwa hundertköpfige Menschenmenge von Alphonsen mit einer russischen Fahne ging. Eine Demonstration. Sie gingen und riefen: „Es lebe der russische Zar! Nieder mit den Streikenden!“ Kinder liefen hinterher. Die Menge links und rechts Lachte; andere spuckten aus. Aber zum Schluss gerieten einige Arbeiter in Rage. Es kam zu einer Schlägerei mit Stöcken und Messern. Wieder einmal gab es Verwundete und diesmal mehrheitlich auf Seiten der Arbeiter. Spät am Abend gingen die Arbeiter, die an der Schlägerei beteiligt gewesen waren, auf die Straßen, wo die jüdische Armut zu Hause war, und riefen: „Lasst uns gehen und mit den Lumpen abrechnen...!“ Eine große Menge machte sich auf den Weg zu den drittklassigen Häusern [d. h. Freudenhäuser], die sich in dem jüdischen Viertel befanden. Die Alphonsen flüchteten, man fand nur die unglücklichen Mädchen vor. Nun begann ein wahrer Pogrom. In der Nowolipie-, Krochmalna-, Dzielna- und anderen Straßen überfiel man die „Etablissements“, zerschlug Klaviere und warf sie aus den Fenstern auf das Straßenpflaster. Die Bettlaken wurden zerrissen und die Straßen mit Federn und Daunen bedeckt. Auch den Mädchen zerriss man die Kleider, schlug sie tot. Ich weiß von Fällen, dass man einige kurzerhand aus dem Fenster auf die Straße warf. Auf diese Weise ging man von Haus zu Haus, was einen ganzen Tag dauerte.

Es fing spät am Abend an, und die Organisation wusste nichts davon. Erst um acht Uhr am anderen Morgen informierte man uns. Ich ging auf die Mita-Straße hinaus. Das große Lokal der Schuster war schon voll. Die einen waren gar nicht erst zur Arbeit gegangen, andere hatte man von der Arbeit weggeholt, man rief: „Die Organisation soll die Arbeit in der ganzen Stadt in allen Gewerken stilllegen.“ — „Wozu?“ — „Was heißt, wozu? Es ist ein Protest. Arbeiterblut wird vergossen, und Ihr schweigt. Würde man einen von Euch Führern töten, würdet Ihr den Generalstreik ausrufen. Ihr würdet uns auf die Straße zu einer Demonstration rufen. Aber wenn man die Masse schlägt, schweigt Ihr, wollt nicht protestieren...“ Unsere Lage war sehr schwierig. Auf der einen Seite musste man die unglücklichen Mädchen beschützen, damit der Pogrom nicht noch weiter ging, man musste den Massen zeigen, dass sie auf dem falschen Weg waren. Auf der anderen Seite wussten wir, dass das Ganze nach einer Provokation roch. Die Polizei bereitete Verhaftungen vor, würde sogar den Kriegszustand einführen. Und wir hatten Informationen erhalten, wonach die Alphonsen schon bewaffnet in der Altstadt „in Position“ waren und mit Unterstützung der Polizei jede Minute in die Arbeiterviertel einfallen konnten. Die polnischen Zeitungen, sowohl die liberalen als auch die konservativen, kamen an diesem Tag mit dem Pogrom als der ersten Nachricht heraus, und die Artikel lobten die Arbeiter. „Die Arbeiter haben begonnen, den Schmutz und die Schande aus Warschau zu kehren, mögen sie Erfolg haben, sie verdienen das größte Lob.“ Und erneut roch das alles nach einer Provokation.



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