Das rote Sofa: Geschichten von Schande und Scham by Leopold Federmair
Autor:Leopold Federmair [Federmair, Leopold]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-10-28T04:00:00+00:00
LOOK!
Unlängst fuhr ich in Wien in einem U-Bahnwaggon der Linie 1. Ich setzte mich zu zwei Personen, die einander gegenüber saßen, ein junger Mann und eine junge Frau, von denen ich im ersten Moment dachte, daß sie zusammengehörten. Der junge Mann, um die dreißig, sprach ruhig, aber die Frau wirkte starr, sie sagte kein Wort und verzog keine Miene. Nein, die beiden waren keine Bekannten, sondern Fremde. Es dauerte nicht lange, bis der Mann sich mir zuwandte. Ich entschuldigte mich, ich sei gerade erst dazugekommen und wisse nicht, wovon die Rede sei. Er blieb bei seinem Thema, als gebe es ohnehin nur das eine, jeder könne sich jederzeit einklinken. Es sei doch seltsam, meinte er, daß sich alle Leute dunkel kleiden würden, die meisten schwarz, da komme nicht die geringste Lebensfreude zum Ausdruck. Als ob lauter Tote durch die Gegend wandeln – er sagte „wandeln“ – würden.
Ich wagte einen Seitenblick auf die neben mir sitzende Frau: Richtig, ihre Kleider waren schwarz. Es war Anfang März, vor kurzem hatte es noch geschneit. Mir war selbst schon oft aufgefallen, daß sich die Leute im Winter vorwiegend dunkel kleideten. Besonders in Italien, als ich einen Wintermonat in einem Dorf in Latium verbrachte, hatte ich die Uniformität, ja, die ausnahmslose Unikolorität unter den Jungen geradezu absurd gefunden. Ich sagte zu dem jungen Mann, so sei das nun mal im Winter, eine Modeerscheinung, eine ich weiß nicht was… Vielleicht fühle man in dunkler Kleidung die Kälte nicht so stark. Ich dachte an die weißen Hosen und Mäntel, die manche Frauen in Japan im Winter tragen, einer alten symbolistischen Ästhetik folgend, in welcher Stoffe und Ornamente den Wandel der Jahreszeiten nachzuahmen trachten. Aber davon sagte ich nichts.
Nein, erwiderte der junge Mann, sogar im Sommer würden sich die Leute möglichst unauffällig kleiden, oft dunkel. In Wirklichkeit würden sie überhaupt jeden Ausdruck ablehnen und sich zurückziehen, verschanzen. „Die Frauen schminken sich nicht“, sagte er und warf der ihm gegenüber Sitzenden einen scharfen Blick zu (tatsächlich war ihr Gesicht nicht geschminkt). „Sie zeigen sich nicht, sondern verstecken sich. Die wollen nicht, daß man mit ihnen redet.“
Ich dachte wieder an Japan, an die Mädchen und Frauen, die in vollbesetzten Zügen, auch im Flugzeug, den Taschenspiegel zücken und in aller Ausführlichkeit ihr Gesicht bemalen, die Frisur zurechtrücken, ein überschüssiges Haar an der Augenbraue auszupfen. Schminkte man sich in Europa wirklich nicht mehr?
„Die schminken sich nicht“, wiederholte der junge Mann. „Schauen Sie doch, jede ist so unauffällig wie ein Detektiv. Und wenn du sie trotzdem anschaust, frage nicht, wie sie dich behandeln!“
„Aber…“, sagte ich, streckte meinen Finger aus und dachte im selben Augenblick, daß es sich nicht gehört, auf fremde Menschen zu zeigen. „Sie tragen doch selber schwarze Kleidung.“
„Das ist kein Schwarz, es ist Blau.“ Seine Stimme vibrierte ein wenig beim zweiten Farbwort.
Möglich, ja, seine Jacke war dunkelblau. Aber darauf kam es doch nicht an, der Mann war mindestens ebenso unauffällig gekleidet wie die meisten hier im Waggon, über die er sich verächtlich ausließ. Er hatte nichts Besonderes, nichts Anziehendes, allerdings auch nichts Abstoßendes an sich.
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