Das Phantom, der Opa! by Wolfgang Max Kracht & Marina Reiter

Das Phantom, der Opa! by Wolfgang Max Kracht & Marina Reiter

Autor:Wolfgang Max Kracht & Marina Reiter
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: MIRA Taschenbuch
veröffentlicht: 2014-11-17T05:00:00+00:00


22. März 1964

In dieser Nacht schlief Beatrix ausgesprochen schlecht.

Sie wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere, wollte am liebsten liegen bleiben, weiterschlafen, den Tag verpennen. Heute, am Sonntag, sollte das Gamben-Quartett in der Schul-Aula auftreten.

Und Bea hatte darauf absolut null Bock.

Nicht, dass sie Lampenfieber hätte oder den großen „Bammel“ vor einem öffentlichen Auftritt. Ganz gewiss nicht, da könnte das Fernsehen live übertragen, und es wäre ihr egal.

Bea hatte einfach keine Lust auf Gambe und Quartett. Ganz zu schweigen von Kleid und Haarspange und Nylons und schwarzen Lackschuhen mit Schleife. Die Beatles sangen von „Babys in Black“ und nicht von zwölfjährigen Gamben-Mädchen in „Nur die“-Feinstrumpfhosen.

Mama, Papa, die Zeiten haben sich geändert! Bitte, befreit mich doch von diesem mittelalterlichen Mist. Ich will keine Minnelieder spielen! Kauft mir ein Klavier, bitte …

Auf dem Programmzettel in der Schul-Aula standen unter anderem Werke von Michael Praetorius. Der Mann hatte von 1571 bis 1627 gelebt, und sein größter Hit war „In dulci jubilo“. „In süßer Freude“ – so spricht doch kein Mensch. Bea will ja nicht ungerecht sein, das war bestimmt ein großartiger Musiker und Komponist. Aber „In dulci jubilo“ und Co. sind nun mal nichts für sie.

Bea hegte schlimmste Befürchtungen für diesen Sonntag: Eine ihrer Freundinnen könnte zufällig in die Schulaula kommen und vielleicht sogar Jungs mitbringen! Jungs, die Bea ziemlich gut fand. Besonders diesen einen, von dem sie sich eine Beatles-LP ausgeliehen hatte und vom dem sie wusste, dass er Gitarre spielte – E-Gitarre natürlich. Und süß sah der auch noch aus! Nicht auszudenken, wenn ausgerechnet der auftauchen würde.

Da wurde Bea klar: Dieser eine Auftritt konnte ihre ganze Zukunft ruinieren.

Hatte sie nicht zufällig ganz übles Halskratzen? Vielleicht war sie ja krank!? Bea seufzte. Damit würde sie nicht durchkommen. Und es kratzte eindeutig auch nichts.

Beas Blick fiel auf eins der Plakate über ihrem Bett: Da stehen die vier Jungs aus Liverpool vor ihren dicken Verstärkern, John und Paul stecken die Köpfe zusammen, singen gemeinsam in ein Mikro, George etwas abseits, in sich gekehrt mit geilem Gitarren-Solo, im Hintergrund, auf einer erhöhten Bühne, Ringo, lächelnd und lässig. Publikum kreischt. Das ist das wahre Leben, das ist Musik, das ist der helle Wahnsinn.

Bea stellte sich im Gegensatz dazu die Schulaula bildlich vor: keine Verstärker, keine coolen Typen. Die Eltern haben sich fein herausgeputzt, Papa trägt Anzug und Schlips. Mama ein hochgeschlossenes Kleid, eine altmodisch gemusterte Stola über der Schulter. Oma und Opa sind bestimmt auch da. Dann vielleicht auch noch Kinder im Krabbelalter? Erstklässler und C-Flöten-Schüler? Wie schrecklich.

In wenigen Stunden sollte es losgehen.

Beas Eltern waren an diesem Morgen mit den Jungs zum Fußball gefahren. Das war echt in Ordnung, dass ihre Brüder Fußball spielten, dazu hätte sie auch Lust. Aber Mädchen spielten kein Fußball, im Jahr 1964, da spielten Mädchen Spiele für Mädchen und Jungs Spiele für Jungs.

Beatrix entschied, den Gamben-Quartett-Auftritt ausfallen zu lassen.

Bea war allein zu Haus. Das gab ihr die Möglichkeit, Dinge zu tun, die sie nicht durfte. Das hatte sie nie wirklich ausgenutzt, dazu war sie zu brav, aber heute war die berühmte Ausnahme.



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