Das fremde Jahr (German Edition) by Giraud Brigitte

Das fremde Jahr (German Edition) by Giraud Brigitte

Autor:Giraud, Brigitte [Giraud, Brigitte]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783104009308
Herausgeber: Fischer e-books
veröffentlicht: 2013-12-11T23:00:00+00:00


In seinem letzten Brief hat Simon nicht erwähnt, wie es zu Hause läuft. Ich habe keine Ahnung, wie sich die Situation zwischen meiner Mutter und meinem Vater entwickelt. Ich weiß nicht, ob mein Vater immer noch auf dem Sprung oder gar schon ausgezogen ist – oder noch abwartet. Ich weiß nicht, ob meine Mutter sich beruhigt hat, ob sie immer noch auf ihren unterschwelligen Vorwürfen herumreitet, ihren schwerwiegenden Anklagen. Simon erzählt von nichts anderem als einem Mädchen, das er kennengelernt hat. Drei Seiten lang Edith – was sie sagt, was sie denkt, was sie will, wie sie ist, oder vielmehr, wie er glaubt, dass sie ist. Edith und ihre Haare, Edith und ihre Stiefel, Edith und ihr Humor, Edith und ihr Tanzkurs. Und so ist sein Brief nur ein langer, belangloser Monolog, es gibt nichts mehr außer diesem Mädchen, das seinen Horizont zu vernebeln scheint. Ich erkenne Simon nicht wieder, der normalerweise allem gegenüber so aufgeschlossen ist; jetzt antwortet er kaum auf die Fragen, die ich ihm gestellt habe, reagiert nicht auf meinen Bericht über die Fahrt nach Dänemark, die ich ihm in sämtlichen Einzelheiten geschildert habe und die in meinen Augen nun wirklich ein Ereignis war. Nein, kein Kommentar, als wäre ihm meine Reise ans Ende der Welt völlig gleichgültig. Er hat mir keine Musik geschickt, erwähnt sie nicht einmal mehr. Er fragt nicht, wie ich die Kassette von Iggy Pop fand. Ich fürchte das Schlimmste für Simon. Ich sehe es förmlich vor mir: Simon, ganz im Banne dieses Mädchens, nickt begeistert bei jedem ihrer Worte, bei jeder ihrer Ideen; Simon, nur noch der Schatten seiner selbst, von Kopf bis Fuß zitternd, wartet nur auf einen Ruf, einen Blick. Ich kann mich beim besten Willen nicht für Simon freuen, dabei sollte ich das tun, ich sollte aufgeregt und neugierig nach weiteren Informationen fragen, aber ich bin wie vor den Kopf gestoßen, sitze im Untergeschoss auf meinem Bett und lasse mich, noch bevor ich den Brief zu Ende gelesen habe, seitlich auf das Kopfkissen fallen und habe das Gefühl, als würde die Erde mich zu ihrem Mittelpunkt ziehen, als wäre die Anziehungskraft stärker als sonst; ich sinke in die Matratze, immer tiefer, und verstehe nicht, warum ich weine. Ich habe das Gefühl, dass Simon mich verlässt, mich im Stich lässt in diesem kalten, nicht enden wollenden Winter, weit weg von zu Hause, von ihm und auch bereits von meiner Kindheit. Ich ärgere mich über meine lächerliche Reaktion, ich bin eifersüchtig auf diese Unbekannte, die nichts von uns weiß, weder von Simon noch von unserer Geschichte. Ich bin sauer auf dieses Mädchen, das mir meinen Bruder gerade jetzt wegnimmt, wo ich ihn am dringendsten brauche. Wer soll von nun an Zeuge meiner Existenz sein, wer wird wissen, dass ich mit Mächten ringe, denen ich nicht gewachsen bin? Wem soll ich erzählen, was ich Tag für Tag hier erlebe? Wer kann mir sagen, wie es dazu gekommen ist? Ich habe den Eindruck, dass Simon mich loswerden will, dass es ihm nunmehr egal ist, ob es richtig von mir war wegzugehen.



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