Zur See by Dörte Hansen

Zur See by Dörte Hansen

Autor:Dörte Hansen [Hansen, Dörte]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Penguin Verlag
veröffentlicht: 2022-09-27T22:00:00+00:00


8

Das Auge eines Wals

Auf ihrer langen Wanderung vom Nordmeer in den Süden verirren sich die großen Wale hin und wieder. Sie müssten um die Shetlandinseln und die Äußeren Hebriden schwimmen, dann vorbei an Irland, um irgendwann vor den Azoren anzukommen. Stattdessen biegen sie, aus Gründen, die der Mensch nicht kennt, viel früher ab und landen in der Nordsee, die nur ein Hungertümpel ist für einen Wal. Dann verenden sie, und manchmal werden sie vor einer Insel angetrieben, im Januar, wenn alle Strände leer sind.

Man könnte glauben, dass die Menschen von den Nordseeinseln wissen müssten, was mit einem toten Wal zu tun ist. Dass sie in ihren Häusern oder Hafenschuppen, auf Dachböden und in verstaubten Seemannskisten, zwischen rostigen Harpunen oder alten Angelleinen auch noch Flensmesser und Speckstecher haben müssten, die sie nur kurz zu schleifen bräuchten, um dann mit routinierten Schnitten einen dreißig Tonnen schweren Meeressäuger zu entfleischen.

Dass sich die Männer, die in alten Seemannsjacken frieren, Krabben fischen, Treibgut suchen, Seevögel kartieren, auch noch daran erinnern müssten, wie man die zähe Haut, den dicken Speck der Wale schneidet. Dass sie nicht flüchten vor dem infernalischen Gestank, den so ein totes Tier verströmt, weil ihre Häuser hinter Knochenzäunen stehen und sie die Delfter Fliesen und die Kostbarkeiten in den Glasvitrinen doch dem Tran der Wale zu verdanken haben.

Jahrhunderte verrutschen manchmal auf den Inseln. Man kann das Zeitgefühl verlieren, wenn man vor reetgedeckten Häusern steht, die noch die Grönlandfahrer-Initialen in den Giebeln tragen. Und dann vergessen, dass die Zeit der Walfangschiffe seit Jahrhunderten vorbei ist, auch wenn die Nachgeborenen noch vom Geerbten zehren.

Die Leute von den Inseln müssen nicht mehr frieren, und sie müssen auch nicht mehr zur See. Sie müssen nicht mehr wissen, wie man einen Wal zerlegt.

Sie dürfen sich, wie alle anderen, erschrecken, wenn sie an einem Wintermorgen, kurz nach Sonnenaufgang, einen Pottwal in der Brandung finden.

Jens Sander hält das Fernglas fester, drückt es mit beiden Händen an die Augen, bis er erkennt, was da am Strand liegt, einen halben Kilometer weit von seiner Tür entfernt. Kein umgekippter Bus, kein angetriebener Container, sondern ein viel zu großer Körper, deplatziert, wie etwas Außerirdisches.

Ein Wal an einem Strand ist so verkehrt, dass man sich an den Anblick erst gewöhnen muss. Jens Sander braucht die tausend Schritte zwischen seinem Schöpfwerk und dem Berg von Tier, bis er den Augen wirklich traut.

Der Wal liegt auf der rechten Seite, und er atmet noch. Sein Unterkiefer mit den großen Zähnen hängt wie ein Sägeblatt im Sand. Jetzt wird er hier im flachen Brandungswasser sterben, weil er im Nordatlantik irgendwann falsch abgebogen ist.

Wahrscheinlich ist er nicht der Einzige, der sich verschwommen hat, die jungen Pottwalbullen wandern meist gemeinsam Richtung Süden. Halbstarke, noch nicht ausgewachsen, leichtsinnig vielleicht und übermütig wie bei einem Junggesellenausflug. Wenn einer einen falschen Weg nimmt, folgen ihm die anderen. In manchen Wintern treiben fünfzehn oder zwanzig dieser Wale in der Nordsee, liegen auf dem Watt bei Ebbe, werden auf Sandbänke gespült, verenden an den Stränden, manchmal ganz dicht beieinander, dann liegen sie wie tote Brüder.



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