Zeit der Zauberer: Das große Jahrzehnt der Philosophie 1919 - 1929 (German Edition) by Wolfram Eilenberger
Autor:Wolfram Eilenberger [Eilenberger, Wolfram]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Nationalsozialismus, Antisemitismus, Denken, Zwanziger Jahre, Philisophenstreit, Philosophie, Deutschland, Walter Benjamin, Capri, Davoz, deutsche Sprache, Martin Heidegger, Ernst Cassierer, Geistesgeschichte, Ludwig Wittgenstein, Hamburg, deutsche Denker, Zweiter Weltkrieg
Herausgeber: Klett-Cotta
veröffentlicht: 2018-03-09T23:00:00+00:00
Trauben und Mandeln
Da ist das Gesprächsklima auf seiner Trauminsel doch deutlich anregender. Anstatt der internationalen Bourgeoisie, so jedenfalls will man sich selbst beschreiben, ist Capri bereits seit der Jahrhundertwende zu einem Sehnsuchts- und Erholungsort der linken Intelligenzija geworden. Der russische Schriftsteller Maxim Gorki, eine literarische Ikone der Revolution, hatte hier sogar eine eigene, wenn auch kurzlebige Akademie gegründet. Aufgrund der niedrigen Lebenskosten und der stabilisierten Rentenmark wird Capri im Sommer 1924 vor allem zum Anlaufpunkt deutscher Denker und Kunstschaffender. Benjamin ist keineswegs die einzige prekäre Denkerexistenz, die sich in dem ewigen Frühling Capris ein mehr an Lebensqualität und geistiger Sammlung erhofft. Als Treffpunkt der Szene dient dabei das von einem deutschen Paar geführte »Café zum Kater Hiddigeigei«. Nach der Abreise der Freunde sieht man Benjamin des Nachmittags dort immer häufiger den ersten Kaffee seines Tages schlürfen, um angeregt von dem Treiben auf der Piazza eigene Gedanken zu sammeln oder sich bei der Lektüre der Zeitungen ein ums andere Mal dafür zu beglückwünschen, hier, an diesem glänzend distanzierten Traumort in angenehmster Maiwärme den gewiss nahenden Untergang des Abendlandes zu bezeugen.
Doch auch in Capri ist nicht alles rosig. Vor allem die noch immer nicht begonnene Niederschrift der Arbeit drückt Geist und Stimmung. Wie immer unter Stress, meldet sich Benjamins Lärmkrankheit zurück. In italienischen Dorfgefilden ein besonders hartnäckiges Problem. Er sucht binnen dieses Monats fieberhaft nach einem neuen, bezahlbaren Quartier und verlegt sich aufgrund der nun drückenden Tageshitze auf lange Abendschichten des Schreibens. Doch leider »regt sich das Federvieh auch des Nachts«. Und dann gibt es da noch diese junge Dame, die er seit mehreren Wochen von seinem Platz im Café aus beobachtet, wie sie gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter Einkäufe erledigt oder sich kurz zum Sonnenbad ausruht, während die Tochter mit einem Eis in der Hand um den Brunnen der Piazza tanzt. Keine Deutsche, so viel ist sicher. Die hohen Wangenknochen und das runde, wenngleich schmale Gesicht verweisen auf eine andere Herkunft. Und noch mehr ihre großen Augen, die sich, wann immer sie lacht, zu einem winzigen Spalt zusammenziehen und dem Antlitz eine fast asiatische Anmutung geben. Benjamin ist verzaubert und sieht, als die schöne Unbekannte, es ist wohl Ende Mai, bei einem der Straßenhändler eine Tüte Mandeln erwerben will, sich ihm jedoch auf Italienisch nicht recht verständlich machen kann, seinen Augenblick gekommen:
»Gnädige Frau, dürfte ich ihnen behilflich sein?«
»Bitte.«
Der Mann, der ihr gegenübersteht, hat dunkles, dichtes Haar und trägt Brillengläser, »die wie kleine Scheinwerfer Lichter werfen«.157 Schmale Nase, Hände, die niemals ernsthaft gearbeitet haben. Den Typus kennt sie: »ein klassischer bourgeoiser Intellektueller, vermutlich einer der wohlhabenden Sorte«. Abgesehen vom finanziellen Status eine treffsichere Einschätzung, deren Wahrheitsgehalt sich sogleich erweist. Denn Benjamin lässt eben die Einkaufstüten, die hilfreich zu tragen er sich anerboten hat, so ungeschickt fallen, daß die Waren weit verstreut über die Piazza kullern. »Gestatten Sie, das ich mich vorstelle: Doktor Walter Benjamin.«
Benjamin begleitet die beiden nach Hause und lädt sich bereits für den nächsten Abend zu Spaghetti und Rotwein ein. Mit Beginn des Junis werden seine Abendschichten, wie er Scholem
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