Aufbruch und Entscheidung by Schweikert Ulrike

Aufbruch und Entscheidung by Schweikert Ulrike

Autor:Schweikert, Ulrike [Schweikert, Ulrike]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Roman
Herausgeber: Rowohlt
veröffentlicht: 2019-09-09T22:00:00+00:00


Kapitel 16

1911

Über den Wolken

Die Hoffnung des Kanzlers Bethmann Hollweg auf Entspannung der außenpolitischen Lage hielt nicht lange an. Im Frühling 1911 besetzten französische Truppen widerrechtlich das marokkanische Fes. Dies schien dem Staatssekretär des Äußeren, der zuständig war für die deutsche Außenpolitik, die Gelegenheit, in der Kolonialpolitik voranzukommen und die Einflusssphären in Nordafrika zugunsten des Deutschen Reichs zu verschieben. Die Franzosen verstießen gegen geltendes Recht, also war es geradezu Deutschlands Pflicht einzugreifen, wenn auch nicht mit dem Ziel, die Rechte Marokkos zu verteidigen. Es ging allein darum, die eigenen Kolonien zu vergrößern. Mehr Land, mehr Bodenschätze, mehr Absatzmärkte, mehr Macht!

Des Kanzlers Bedenken wurden nicht gehört, stattdessen schickte Großadmiral von Tirpitz ein Kanonenboot nach Agadir, um die Hafenstadt einzunehmen. Mal sehen, was die Franzosen bereit waren zu bieten!

Es war eine Kriegsdrohung, doch der Generalstab ging nicht davon aus, dass es dazu kommen würde.

Um der Bevölkerung klarzumachen, wie wichtig es sei, die deutschen Interessen in Nordafrika durchzusetzen, verbündete sich der Staatssekretär mit Heinrich Claß, dem Vorsitzenden des Alldeutschen Verbands. Der war nur zu gerne bereit, die Stimmung im Volk für die imperialistischen Begehrlichkeiten anzuheizen. Claß ließ in hohen Auflagen eine Broschüre drucken, in der die Gründung eines deutschen Westmarokkos gefordert wurde.

Hurrah! Eine Tat! Der deutsche Träumer erwacht aus zwanzigjährigem Dornröschenschlaf, stand nach der Landung des Kanonenboots vor Marokko in der Rheinisch-Westfälischen Zeitung, die der Schwerindustrie nahestand.

Die Hoffnung, dass sich England aus dem Konflikt heraushalten würde, wurde rasch enttäuscht. Das Reich musste sich auf Verhandlungen einlassen, an deren Ende die Deutschen das französische Protektorat in Marokko anerkannten und auf einen eigenen Einfluss in der Region verzichteten. Lediglich deutsche Unternehmen durften sich im Land ungehindert betätigen. Somit war das Ende der Marokko-Krise ein Fiasko – innen- und außenpolitisch.

Die Konservativen warfen der Regierung den Ausverkauf der deutschen Interessen vor. Die nationalen Zeitungen schimpften über die Sozialdemokraten, die mit ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem Krieg, Deutschlands Interessen verraten würden, die Militärs dagegen begannen, von einem Präventivkrieg zu träumen, um das Ansehen Deutschlands wiederherzustellen.

Generalstabschef von Moltke, der 1906 auf dem Posten von General von Schlieffen nachfolgte, warnte: »Wenn wir uns nicht zu einer energischen Forderung aufraffen können, die wir bereit sind, mit dem Schwert zu erzwingen, dann verzweifle ich an der Zukunft des Deutschen Reichs.« Während Bethmann Hollweg an einen Freund schrieb: »Das deutsche Volk hat in diesem Sommer leichtfertig mit dem Krieg gespielt. Das stimmt mich ernst, dem muss ich entgegentreten.«

Doch es stand nicht in seiner Macht, die immer machtvolleren Kriegstreiber in ihre Schranken zu weisen. Die Vorstellung von einem großen Krieg, der demnächst kommen könnte – ja kommen müsste –, begann sich tief im Bewusstsein der Menschen festzusetzen.

Als Rahel das Kasino der Ärzte betrat, traf sie nur Dr. Nicolai an, der sich über die aufgeschlagene Zeitung beugte, die auf einem der Tische lag.

Rahel grüßte und nahm sich eine Tasse Kaffee. Nicolai beachtete sie gar nicht, zu sehr schien er in die Zeitungslektüre vertieft.

»Die sind alle verrückt geworden«, schnaubte er. »Es ist nicht zu fassen!«

»Schlechte Nachrichten?«, erkundigte sich Rahel vorsichtig.

Der Oberarzt fuhr auf. »Oh, Dr. Hirsch, guten Tag.



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