Wenn nachts der Ozean erzählt by Zana Fraillon

Wenn nachts der Ozean erzählt by Zana Fraillon

Autor:Zana Fraillon [Fraillon, Zana]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: d-cbt HC
veröffentlicht: 2017-01-05T13:26:30+00:00


Die Soldaten kamen in der Nacht. Morgens gab es in der Stadt nur noch zwei Menschen. Einer von ihnen war Oto. Er hatte einen Gewehrkolben auf den Kopf bekommen und war den Rest der Nacht bewusstlos gewesen. Die vorbeilaufenden Soldaten hatten ihn für tot gehalten und liegen gelassen, auf dass er verwese oder von den wilden Hunden aufgefressen werde.

Die andere Person, die man weder getötet noch verschleppt hatte, war Mirka. Mit dem Wissen, dass sie keiner einzigen Seele helfen konnte, hatte sie alles von ihrem Sitz auf dem Marktplatz beobachtet, den Knochenspatz umklammert und mit dem Daumen über die grüne Münze in ihm gerieben. Sie wartete darauf, dass man sie gefangen nehmen und mit den anderen, die zu alt oder zu jung oder zu krank für die Reise waren, töten würde. Aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund schienen die Soldaten die uralte Frau nicht zu bemerken, die ruhig auf der Steinbank saß, auf der sie schon so viele Tage verbracht hatte. Als der letzte Soldat abzog, spürte Mirka, dass der Knochenspatz unter ihren Fingern glühte.

Es war Mirka, die Oto wieder gesund pflegte, und Mirka, die Oto berichtete, dass Anka zu denen gehörte, die verschleppt worden waren. Es war Mirka, die die Halskette mit dem Knochenspatz abnahm und Oto entgegenhielt. ›Der Spatz wird Ankas Seele erkennen‹, erklärte sie ihm. ›Sie hat ihre Geschichte tief in seine Knochen gerieben. Vielleicht kann er euch helfen, einander zu finden.

Folge dem Pfad zur Bergspitze hinauf. Dort wirst du eine Höhle vorfinden, und in der Höhle ist mein Enkelsohn, Iliya. Sag ihm, dass seine Zeit mit dem Knochenspatz gekommen ist.‹ Mirka legte die Kette in Otos Handfläche und tätschelte liebevoll seine Wange. ›Bleib bei Iliya. Mach dich auf den Weg, um Frieden zu finden. Vielleicht kannst du dann noch einmal das Schicksal überlisten.‹

Oto hatte von Iliya, dem Heiler, gehört. Wie jeder. Den Tränken, die er in seiner Höhle auf dem Berg braute, war es zu verdanken, dass viele aus der Stadt noch am Leben waren. Oto wandte sich zu Mirka und wollte sie fragen, was sie damit meinte, aber Mirka war bereits verschwunden.

Oto schloss die Augen und umklammerte den Knochenspatz. Er erinnerte sich an Anka als Kind und wie sie den Vogel gerieben hatte, wenn sie auf Mirkas Knie saß, ihre brennenden blinden Augen hatten denen des Spatzen geähnelt. Oto fragte sich, wie oft Ankas Finger wohl über genau diese Stelle gerieben hatten. Er spürte den Wind auf seinem Gesicht. Er wusste, dass derselbe Wind auf Anka und ihr ungeborenes Kind zuhielt. Er rief dem Wind seine Liebe zu und betete, dass er Ankas Ohren erreichen möge. Dann machte er sich auf den Weg den Berg hinauf, um Iliya zu finden.

Viele Meilen weiter blies der Wind über Ankas Gesicht, die von den groben Händen der Soldaten vorwärts getrieben wurde. Sie legte eine Hand auf die Wange und spürte Otos Träne. In ihren Ohren hallte sein Ruf und ungeachtet dessen, was ihr gerade geschah, lächelte Anka.



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