Wenn die Gondeln untergehen by Stefan Maiwald

Wenn die Gondeln untergehen by Stefan Maiwald

Autor:Stefan Maiwald
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG
veröffentlicht: 2020-07-15T00:00:00+00:00


In Stahlgewittern

Das gute Öl. Das weiche Putzleder. Der Blick auf den Canal Grande. Gerade schnurrte ein Wasserbus vorbei und hinterließ eine leichte Dieselfahne. Carlo Micciutti grinste. Er war mit der Welt und seinem Platz darin ganz und gar im Reinen, und er grinste, weil er wusste, dass diese Momente nie sehr lange dauerten.

Die Wohnung in Dorsoduro war, zumindest für Venedigs Verhältnisse, nichts Außergewöhnliches, aber jeder Nicht-Venezianer würde allein für den Ausblick morden. Im ersten Stock eines Palazzos nicht weit vom Guggenheim-Museum am Südufer des Canal Grande gelegen, blickte Carlo Micciutti auf den nie erlahmenden Bootsbetrieb und den Palazzo Barbaro-Curtis, jenen berückenden, bis heute unverändert gebliebenen Doppelpalast, der im fünfzehnten Jahrhundert erbaut worden war und einst Zaccaria Barbaro gehörte, dem mächtigen procuratore Venedigs, dessen Macht sogar der Doge gefürchtet hatte. Der Doppelpalast war ausgeschmückt mit Fresken von Tiepolo und Bildern von Sebastiano Ricci und wurde später ein beliebter Künstlertreff; so war Claude Monet zu Gast, und Henry James beendete dort seinen Roman

Die Flügel der Taube. Heute gehörte der Palazzo der amerikanischen Familie Curtis, deren Vorfahren den Bau im Jahr 1885 gekauft hatten.

»Berückend« und »ausgeschmückt« waren die letzten Adjektive, die einem Besucher zu Micciuttis Wohnung einfielen. Hier war alles schlicht, spartanisch und mausgrau. Er selbst verfügte trotz der gewissermaßen verbiesterten Grundierung seines Daseins über einen gesunden Appetit und einen robusten Schlaf; beides würde man aufgrund seiner rachitischen Gestalt nicht sofort vermuten.

Besagter Doppelpalast stellte ein kleines, doch immer nagenderes Problem für seinen eigenen, bescheidenen Wohlfühltempel dar. Seit ein US-amerikanisches Pärchen eine »Venice Architec-Tour« veranstaltete, hielt ein Boot von März bis Oktober zweimal am Tag direkt vor seiner Wohnung, und er hörte das Quäken von einem der beiden Amerikaner und musste fünf Minuten lang das exakt gleiche Referat erdulden, mal in der tiefen, jovialen Stimme des Mannes, mal in der hohen, ekstatischen Stimme der Frau. Tiepolo, Monet, James. Tiepolo, Monet, James. Tiepolo, Monet, James. Und wie bei einem tropfenden Wasserhahn steigerte sich seine Wut mit jeder Wiederholung.

Derzeit war jedoch nichts zu hören, also widmete er sich seinem wöchentlichen Ritual, das ihm tiefen Seelenfrieden bescherte. Er legte die gereinigte Heckler & Koch P10 auf einen Tisch, betrachtete sie zufrieden und nahm sich eine Glock 17, jene Waffe, die so überaus umstritten war, weil sie wegen ihres hohen Kunststoffanteils bei Röntgenkontrollen an Flughäfen nur schwer erfasst werden konnte.

Micciutti war bis vor elf Jahren Lehrer an der Mittelschule gewesen, Geschichte und Geografie. Wegen eines Rückenleidens war er schon mit achtundvierzig Jahren in Frühpension geschickt worden und vertrieb sich seither die Zeit mit wütenden Online-Kommentaren und seinen geliebten stählernen Preziosen. Weil er die Wohnung geerbt hatte, verlief sein Leben finanziell sorgenfrei. Trotz seines süditalienischen Namens, über den er nicht glücklich war und den er einem kalabrischen Einwanderer verdankte, der vor vier Generationen dazwischengefunkt hatte, legte er großen Wert auf seine Venezianität.

Auch legte er Wert darauf, von jeder bedeutenden Waffenschmiede Europas mindestens ein Produkt zu besitzen; aber am liebsten war ihm die Beretta. Einmal hatte er sogar eine Betriebsbesichtigung in Brescia gemacht, denn Beretta, um das Jahr 1520 gegründet, war immerhin eine der ältesten existierenden Firmen überhaupt.



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