Weihnachten: Gedichte und Geschichten by unknow

Weihnachten: Gedichte und Geschichten by unknow

Autor:unknow
Die sprache: deu
Format: azw3, mobi, epub
Tags: Fairy Tales, Legends & Mythology, Folk Tales
ISBN: 9783954182367
Herausgeber: Null Papier
veröffentlicht: 2012-10-08T22:00:00+00:00


V. Auf dem Heimweg

Oh, wie vieles hatte Rudy zu tragen, als er am nächsten Tag über die hohen Berge in Richtung Heimat ging. Ja, er hatte drei Silberbecher, zwei vorzügliche Flinten und eine Kaffeekanne aus Silber, die konnte man bei der Gründung eines Hausstands gebrauchen. Aber das alles wog nicht am schwersten; auf seinem Weg über die hohen Berge trug er noch etwas – oder wurde von ihm getragen –, das hatte mehr Gewicht und Macht. Das Wetter war rauh, grau, regnerisch und trübe; wie ein Trauerflor senkten sich die Wolken auf die Berge und hüllten die schimmernden Gipfel ein. Aus dem Waldesgrund tönten die letzten Axtschläge, und die Stämme, die den Hang hinunterrollten, sahen von oben wie Kleinholz, aus der Nähe jedoch wie mastdicke Bäume aus. Die Lütschine ließ ihren einförmigen Akkord erklingen, der Wind brauste, die Wolken segelten. Plötzlich ging neben Rudy ein junges Mädchen, das er erst bemerkte, als sie an seiner Seite war, sie wollte ebenfalls über die Berge. Ihre Augen besaßen eine eigene Macht, man war gezwungen, in sie hineinzuschauen; sie waren so seltsam glasklar, tief und grundlos.

»Hast du einen Liebsten?« fragte Rudy; denn er selbst dachte an nichts anderes als an sein Liebstes.

»Den habe ich nicht«, sagte sie lachend; doch es klang, als wäre kein Wort davon wahr. »Laß uns einen anderen Weg gehen«, schlug sie vor. »Wir müssen weiter nach links, das ist kürzer.«

»Ja, um in eine Eiskluft zu fallen!« sagte Rudy. »Weißt du nicht besser Bescheid und willst mich führen!«

»Ich kenne den Weg sehr wohl«, sagte sie, »und habe meine Gedanken bei mir. Die deinen sind wohl unten im Tal. Hier oben muß man an die Eisjungfrau denken, sie ist den Menschen nicht gut, sagen die Menschen.«

»Ich fürchte sie nicht«, sagte Rudy, »sie mußte mich loslassen, als ich ein Kind war; jetzt, wo ich älter bin, werde ich sie schon loswerden!«

Und die Finsternis wuchs, der Regen strömte, dann kam Schnee, der leuchtete, der blendete.

»Reich mir deine Hand, dann werde ich dir beim Aufstieg helfen!« sagte das Mädchen und berührte ihn mit eiskalten Fingern.

»Du und mir helfen!« sagte Rudy. »Ich habe noch keine Frauenhilfe beim Klettern gebraucht!« Und er schritt rascher aus und ließ sie zurück. Das Schneegestöber schlug wie eine Gardine um ihn zusammen, der Wind brauste, und hinter sich hörte er das Mädchen lachen und singen – das klang ganz sonderbar. Gewiß war es Geisterspuk im Dienste der Eisjungfrau; Rudy hatte davon gehört, damals in seiner Kindheit, als er hier oben übernachtet hatte, auf der Wanderung über die Berge.

Der Schnee fiel dünner, die Wolke lag unter ihm, und als er zurückschaute, war niemand zu sehen; doch er hörte ein Lachen und Jodeln, das nicht wie von einem Menschen klang.

Als Rudy endlich jene Stelle im Gebirge erreichte, wo der Pfad direkt hinunter in das Rhônetal führt, erblickte er in dem klaren blauen Streifen Luft, wo fern Chamonix liegen mußte, zwei helle Sterne, die leuchteten und funkelten – und er dachte an Babette, an sich selbst und an sein Glück, und bei diesen Gedanken wurde ihm warm.



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