Verratene Kinder by Nicole Glocke & Edina Stiller

Autor:Nicole Glocke & Edina Stiller
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Ch. Links Verlag
veröffentlicht: 2014-01-01T05:00:00+00:00

Niedergeschlagen ging ich nach Hause. Meine Enttäuschung war grenzenlos. Alle Versuche, Stiller, der für mich mittlerweile ein Phantom geworden war, aufzufinden, um durch ihn vielleicht Licht in die Vergangenheit meines Vaters bringen zu können, waren gescheitert. Mich befiel ein Zustand der Lethargie. Wenn ich in der Zeitung Artikel altkluger Journalisten las oder im Fernsehen Reden von moralisierenden Politikern hörte, in der die heutige Jugend zu mehr Sensibilität für die jüngste deutsche Vergangenheit aufgefordert wurde, wandte ich mich angewidert ab. Für viele schien mein Drang nach Aufarbeitung offensichtlich ein exotisches Hobby zu sein. Mein Vater war unfähig zu erkennen, wie belastend es für mich war, seine Lebensgeschichte nicht zu kennen, und weigerte sich, mir zu helfen, und diejenigen, die mir hätten helfen können, beriefen sich auf ihre professionelle Geheimniskrämerei. Die bitterste Erkenntnis war, daß mein Bemühen, meinen Vater zu verstehen, noch mehr Fragen als Antworten erbracht hatte.

Ich fühlte mich wie jemand, der in die Mühlräder zweier Generationen und zweier Systeme hineingeraten war, so daß ich nirgends Halt finden konnte, dessen Schicksal es offenbar war, die Zerrissenheit verschiedener Welten als persönliche Qual zu erleben. Das Phantom Stiller diente mir dazu, dieser Qual zu entgehen und alles, was ich mir wünschte, auf ihn zu projizieren, um einen Orientierungspunkt zu gewinnen und der Realität zu entkommen. Das war nicht das erste Mal, daß ich auf diese Weise der Wirklichkeit entfloh. Als Kind und Jugendliche hatte ich mich täglich aus dem Alltag hinweggeträumt. Mein Versinken in Träume und Phantasien war für mich wie eine die Einsamkeit unterdrückende Betäubung. Ich wählte für meine Träume ausschließlich männliche Filmfiguren und erzählte ihnen alles, was in mir vorging. Sie hatten immer Zeit für mich und hörten mir zu, schenkten mir ihre ungeteilte Aufmerksamkeit, nahmen mich in den Arm, tanzten und spielten mit mir, und abends träumte ich, wie sie mich in den Schlaf sangen.

Ich stellte von Kindesbeinen an sehr hohe Ansprüche an mich. Mein Ziel war es, besser zu sein als andere. Das gelang mir in den Bereichen, die mir wichtig waren. Seit frühester Kindheit bestand ich innerhalb meiner Interessengebiete darauf, selbständig für mich zu entscheiden, und ließ mich dabei von niemandem beeinflussen. Ich hatte das Glück, daß meinen Wünschen in der Regel entsprochen wurde. Bereits als kleines Kind fühlte ich mich zur Musik hingezogen und wünschte mir ein Klavier, das ich auch bekam. Da war ich neun Jahre alt, und mein Vater saß zu dieser Zeit im Gefängnis. Die Musik war und ist für mich die höchste Kunst, mit der ich mich bis heute durch mein tägliches Üben auseinandersetze. Nichts beeindruckt mich mehr als hochbegabte Künstler, die ihr Leben der Musik widmen und es verstehen, den Tönen eine Seele zu geben. Zugleich erleichtert die Musik mein Wegträumen aus der Realität, weil ich mir unter dem Einfluß der Töne alles vorstellen kann, ohne ein Interpretationsmuster berücksichtigen zu müssen. Die Musik nimmt auch Einfluß auf meine Gefühlswelt. Traurige Musik raubt mir meinen Lebensmut. Lyrische oder temperamentvolle Musik erzeugt bei mir intensive sinnliche Gefühle. Für mich gibt es nichts Erotischeres als Musik.

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