Verlangen und Melancholie by Bodo Kirchhoff

Verlangen und Melancholie by Bodo Kirchhoff

Autor:Bodo Kirchhoff [Kirchhoff, Bodo]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Frankfurter Verlagsanstalt
veröffentlicht: 2014-06-18T04:00:00+00:00


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New York – einmal waren wir dort immerhin, als es Naomi noch nicht gab, fünf Tage im Juli, unser Hotelzimmer so düster, dass man die Schaben am Boden kaum sah; in der Lobby eisige Luft, außen eine Sauna. Wir wurden beide krank, aber saßen dann an einem tropischen Abend fiebernd vor Freude bei einem Gratiskonzert von Little Richard im Central Park zwischen schwarzen Kindern, die auf den Bänken tanzten, als ahnten sie schon etwas von Michael Jackson, ein traumtänzerisches Wirbeln und Zucken, während einer der ihren in höchsten Tönen Good Golly Miss Molly sang und am Rande des Parks die Hochhäuser strahlten, ihre obersten Lichter nah an den Sternen. Irene hielt sich an mir, sie glühte; nie waren wir beide jünger als in dieser Nacht. Unser Hotel lag in SoHo, nach dem Konzert gingen wir zu Fuß dorthin. Wir konnten uns kaum auf den Beinen halten, aber liefen immer weiter, am Ende mit blutigen Fersen in unseren Halbschuhen, Irene hielt sich an mir, Ist das schön, sagte sie bei jeder Straße, die wir überquerten, und ihre Zähne schlugen aufeinander, weil sie Schüttelfrost hatte. Dann endlich das Hotel, und im Zimmer schälten wir einander die klebende Kleidung herunter und gingen zusammen duschen, in einen warmen mythischen Regen, in dem wir uns liebten, eine der Erinnerungen, die so auftauchen wie die Orcas aus der Brandung, man selbst die Robbe, die zerrissen wird.

Ich stand noch am offenen Fenster in dem Raum mit der Replik, die wieder beschmiert worden war, und sah in den Museumspark mit den feiernden Jungen und Mädchen, darunter mein Enkel, und es riss mich bei dem Gedanken an diese Umarmung in dem Hotelzimmer mit den Schaben und bröckelndem Putz und träger Klospülung und einem Duschvorhang in der Farbe bleicher Knochen, dahinter wir beide, die Zungen mal in ihrem, mal in meinem Mund. Ein Tun am Rand der Erschöpfung, nahtlos zart, und am Ende ein Kommen so brennend, als ginge ein Strahl aus winzigen Glassplittern von mir zu ihr über. Irene hielt danach mein Gesicht, fassungslos weinend, wie zuletzt an unserem Lagunenort, nachts in der handtuchschmalen Gasse mit einem Namen, den ich leider versäumt hatte, mir zu merken.

Aus dem Park das Lachen der Befreiten mit Abitur in der Tasche, helle Stimmen, helle Worte, Worte für alles, was für immer erledigt war, Geschichte, Algorithmen, Grammatik, Chemie, einmal auch die Stimme von Malte, Der arme Typ Kleist, rief er, und von den anderen ein kindliches Lachen, Glück, das sich Luft macht, wenn ganze Lasten von einem abgefallen sind und man die Lasten, die einen erdrücken werden, noch nicht einmal ahnt. Ich wechselte ein weiteres Mal den Raum, es war bald Dienstschluss, meine Füße schmerzten, auch der Rücken, ein Zeichen, dass es dich gibt, hätte Irene gesagt, so überstand sie die Tage nach zu viel Wein; ja, es gab mich, den, der im Museum das Licht ausmachte und wenig später an den Feiernden rund um den Unbrunnen vorbeiging, alle mit Flaschen in der Hand, sich wiegend zu einer Musik, die nur ein Auf und Ab war.



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