Unsere Liebe soll nicht traurig sein by Kohler Oliver

Autor:Kohler, Oliver
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: adeo
veröffentlicht: 2017-01-24T13:09:28+00:00

Wolf-Dieter Kohler

Selbstporträt

Öl auf Karton

Entstanden während des Studiums

an der Kunstakademie Stuttgart

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DER TAG IM JANUAR

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Ich trete auf die Straße, aber da ist kein Halt. Es gibt keinen Weg mehr. Alles zerfällt in Splitter und scharfkantige Scherben. Wüsste ich nicht, wie sehr sich Dieter auf meinen Besuch freut, dürfte ich nicht aufbrechen zu ihm. Zu berechtigt ist meine Furcht, die Tränen überfluten mich und quellen aus den Augen wie ein perforierter Farbbeutel. Dabei dachte ich, das Arge zu kennen. Wochen im Dreck, immer ein Ziel, regungslos fast, bis Schlamm und Schutt an dir festwachsen. Keine Seife bekommt sie wieder los. Die zweite Lektion dann in Stuttgart. Unsere Wohnung ausgebrannt. Von dort laufe ich zu meinem Atelier. Qualm, Glut und Asche. Alle Werke sind verbrannt. Alle. Aus einer kokelnden Bibel fallen zwei kleine Zeichnungen auf die Erde. Die hebe ich auf und trage sie seitdem bei mir.

Doch das eigene Leid ist zu gering. Sie beordern mich nach Liegnitz. Ein Kurs. Dann geht es zurück Richtung Stuttgart. Dort werde ich den Marschbefehl bekommen. Diese Fahrt ist die schlimmste meines Lebens. Es übersteigt und überflutet mich, Fliehende zu sehen in allen Formen der Misshandlung und Erniedrigung. Mir wird die geistige Haut bei lebendigem Leib abgezogen. Sehend werde ich eins mit dem Unnennbaren. Seitdem gehe ich auf Eis. Jeder Schritt ist eine Entscheidung.

Noch einmal kurz zurück in unseren Unterstand. Die Augen überfliegen mein kleines Reich. Ist alles an seinem Platz, so wie ich es mir ausgedacht habe zu Vaters Ankunft? Keine Rose erwartet ihn und keine Flasche mit einem guten Tropfen. Zwei Zimtsterne habe ich noch von Weihnachten, die liegen auf einem Papier, und ein kleiner Beutel mit Tabak, den ich eingetauscht habe für ihn. Das hellblaue Deckblatt meines Blocks, aber auf keinen Fall zu offen hinlegen … Wir wissen ja nicht, wofür uns Zeit bleibt. Vater soll sich frei fühlen. Der Stoff, mit dem wir uniformiert wurden, fühlt sich schwer an. Ich möchte ihn abstreifen und hin und her laufen wie ein Sohn, der sich auf seinen Vater freut.

Noch zwei Stunden, dann bin ich bei ihm. Der Marschbefehl ist immer noch nicht da. Das ist bestimmt kein Fehler. Sie wissen nur nicht, wohin sie die schicken sollen, die noch zwei Beine und zwei Hände haben. In einem Niemandsland bin ich gerade. Sehr bald werden sie mich über eine Grenze schicken. Kaum einer wird von dort zurückkommen. Wie schwer ist es manchmal, aus dem allen auszusteigen und zu glauben: „Meine Zeit steht in deinen Händen.“ Aber so ist es. Die kommenden Stunden sind Gottes Geschenk. Ob daraus noch einmal Wochen werden und Jahre – „in deinen Händen“. Mit Dieter will ich diesen Tag erleben, als gingen wir an einem Strand entlang, Kilometer um Kilometer. Ab und zu bleiben wir stehen, heben eine besondere Muschel auf, halten sie an unser Ohr. In der kleinen Bucht hüpfen wir in die Brandung. Alles, was wir ihr entgegenschreien, birgt sie in sich.

Jeden Moment kann es so weit sein. Es ist hart, dass ich immer schon an den Abschied denken muss.

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