Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte by Ulla Froehling

Unser geraubtes Leben - Die wahre Geschichte von Liebe und Hoffnung in einer grausamen Sekte by Ulla Froehling

Autor:Ulla Froehling
Die sprache: de
Format: mobi
Herausgeber: Verlagsgruppe Luebbe GmbH Co KG
veröffentlicht: 2012-02-21T23:00:00+00:00


TEIL 2

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Gespaltene Welten

Chile 1961-1997

»Ich brauche einen Ort,

wo mir niemand reinriecht.«

Paul Schäfer, 1949

KAPITEL 9

* * *

Das Gelobte Land

Chile 1961

Die Auswanderung und die Ansiedlung in einem abgelegenen einsamen Landstrich im südlichen Chile ermöglicht dem Führer der Sekte eine noch straffere Organisation und Kontrolle. Nach einer relativ entspannten Anfangsphase, die durch den Aufbau geprägt ist, wird das Leben der Menschen gespalten wie mit einer Axt: brutal und messerscharf.

Alles, was in Siegburg galt, wird hier noch rigoroser durchgesetzt. Hohe Zäune werden errichtet, Stacheldraht gezogen, ein hermetisch abgeriegeltes Arbeitslager entsteht. Die Siedler haben kein Geld, die Pässe sind unter Verschluss, ein Entkommen ist kaum noch möglich. In Siegburg konnte man noch zur Bushaltestelle gehen und einfach wegfahren. Hier gibt es keine Busse. Und verständigen kann man sich mit der spanisch sprechenden Bevölkerung auch nicht. Die meisten Siedler sprechen nur Deutsch und sollen auch nichts anderes lernen.

Das Leben wird nach Geschlecht, Hierarchie, Alter, Funktion aufgespalten. Das Geld für den Aufbau der Colonia Dignidad wird anfangs noch in den sechs bis neun Läden der deutschen »Zweigstelle« in Siegburg erwirtschaftet. Kontakt dorthin ist nur wenigen der »Herren« vorbehalten, meist geht es dabei um geschäftliche Aufträge. Oft sind diese Geschäftsbriefe in einem unangemessenen Ton pubertärer Albernheit gehalten: Ein Klausi schreibt an einen lieben Bäcker und grüßt von Wolle in einer Bestellung von dreizehn Kuhglocken, die vom dreigestrichenen C bis zum viergestrichenen C gestimmt sein sollen. Das wirkt emotional, heimelig, soll aber nur für Außenstehende verschleiern, wer da eigentlich an wen schreibt. Private Briefe sind selten; Inhalt und Formulierungen werden vorgeschrieben, viele Briefe sind fast gleich lautend. Sie sagen nichts darüber aus, wie es den Menschen wirklich geht, was sie beschäftigt und was dort tatsächlich geschieht.

Wolfgang Müller weiß nicht, ob Gudrun auch nach Chile kommen wird. Er hat keine Möglichkeit, es herauszufinden. Gudrun Wagner bleibt weiterhin in Siegburg. Sie weiß nicht, wie lange. Sie weiß nicht, warum. Sie vermutet, es hat mit Alfred zu tun, der in Chile ist. Mit ihren Geschwistern in Chile hat sie keinen Kontakt. Mit ihren Eltern in Graz immer weniger. Die Grazer fallen in Ungnade, weil sie sich widersetzen. Davon erfahren die Geschwister in Chile jahrzehntelang nichts.

Drei Welten sind inzwischen entstanden, die nichts voneinander wissen. Wenn es trotzdem zu kurzen Kontakten kommt, verstehen sie einander kaum noch.

Chile nimmt die Deutschen gerne auf, die Empfehlung des chilenischen Botschafters in Deutschland, Arturo Maschke, ist viel wert. Die Deutschen versprechen Hilfe nach einer Naturkatastrophe: Das schwerste Erdbeben des 20. Jahrhunderts ereignete sich am 22. Mai 1960 in der Provinz Valdivia im Süden Chiles. Es löste einen Tsunami aus, der im Pazifik bis nach Hawaii große Zerstörung anrichtete. »Gebirgsprofile verrutschten bis zur Unkenntlichkeit, Küstenstreifen wurden ins Meer gespült. Inseln versanken im Ozean, neue tauchten auf. Zwei Millionen Menschen wurden obdachlos – ein Viertel der Bevölkerung Chiles. 6000 Menschen kamen bei den Beben, von denen das heftigste als ›Weltbeben‹ registriert wurde, ums Leben«, schreibt der Spiegel am 8. Juni 196052. Ein Weltbeben ist so stark, dass es von Seismografen auf der ganzen Erde registriert wird. Den von diesem Erdbeben betroffenen Chilenen wollen die Deutschen um Paul Schäfer helfen.



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