Um Leben und Tod by Marsh Henry

Um Leben und Tod by Marsh Henry

Autor:Marsh, Henry [Marsh, Henry]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: DVA
veröffentlicht: 2015-04-26T16:00:00+00:00


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GLIOBLASTOM

das, -s: die aggressivste Hirntumorart;

sie entsteht aus nicht-neuronalem Gewebe

Bei meiner Arbeit habe ich wenig direkten Kontakt mit dem Tod, obgleich er ständig präsent ist. Der Tod ist zu einer hygienischen Angelegenheit geworden, zu der man keinen persönlichen Bezug mehr hat. Die meisten Patienten, die unter meiner Obhut im Krankenhaus sterben, haben aussichtslose Kopfverletzungen oder Gehirnblutungen. Sie liegen im Koma, wenn sie eingeliefert werden, und sie sterben im Koma, und zwar in den lagerähnlichen Räumlichkeiten der Intensivstation, nachdem sie zuvor noch eine Zeitlang von Beatmungsgeräten am Leben gehalten wurden. Der Tod tritt auf leise, unspektakuläre Weise ein, wenn sie für hirntot erklärt werden und das Beatmungsgerät abgeschaltet wird. Es gibt keine letzten Worte oder letzten Atemzüge – es werden lediglich ein paar Schalter betätigt, und dann hört das rhythmische Seufzen des Beatmungsgeräts auf. Lässt man die Elektroden für die Herzüberwachung (die normalerweise entfernt werden) angeschlossen, kann man auf dem EKG-Monitor beobachten, wie die Herzstromkurve – eine LED-rote Kurve, die mit jedem Herzschlag steigt und fällt – zunehmend ungleichmäßig wird, während das sterbende Herz, das nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff versorgt wird, ums Überleben kämpft. Nach einigen Minuten hört das Herz in aller Stille auf zu schlagen, und aus der EKG-Kurve wird eine flach verlaufende Linie. Die Krankenschwestern entfernen die vielen Schläuche und Drähte, die an den nun leblos gewordenen Körper angeschlossen sind, und nach einer Weile fahren zwei Stationshilfskräfte einen Rollwagen mit einem unter einer Decke verborgenen flachen Behälter heran und rollen die Leiche in die Leichenhalle. Falls die Organe des Patienten für eine Organspende in Frage kommen, bleibt das Beatmungsgerät auch nach der Hirntoddiagnose angeschaltet und der Körper wird in den OP-Bereich gebracht, was üblicherweise nachts geschieht. Dort werden die Organe entfernt, erst dann wird das Beatmungsgerät abgeschaltet und der getarnte Rollwagen kommt, um den Leichnam wegzubringen.

Die Patienten mit tödlichen Hirntumoren, die ich behandle, sterben normalerweise zu Hause, in Hospizen oder in ihrem örtlichen Krankenhaus. Nur sehr vereinzelt kommt es vor, dass ein von mir betreuter Patient mit einem Hirntumor stirbt, während er noch bei uns in der Klinik ist. Doch auch dann wird er im Koma liegen, denn er stirbt, weil sein Gehirn stirbt. Gespräche über den Tod und über das Sterben führe ich daher ausschließlich mit der Familie, nicht mit den Patienten selbst. Insofern bin ich selten mit dem Tod direkt konfrontiert – gelegentlich werde ich jedoch von ihm überrumpelt.

Zu meiner Zeit als Jungassistent war das ganz anders. Damals hatte ich täglich mit dem Tod und mit sterbenden Patienten zu tun. In meinem ersten Jahr, als ich als Arzt im Praktikum noch ganz unten in der medizinischen Hierarchie stand, wurde ich häufig herbeigerufen, um den Tod eines Patienten zu bescheinigen. Üblicherweise geschah dies in den frühen Morgenstunden, wenn ich noch im Bett lag. Dann ging ich in meinem weißen Arztkittel, jung und gesund, die menschenleeren, anonymen Krankenhausflure entlang, betrat eine abgedunkelte Station und wurde von den Krankenschwestern an ein Bett geführt, um das herum man die Vorhänge zugezogen hatte. Mir entging nicht, dass sich auf der Station noch



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