Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam by Stefan Zweig

Triumph und Tragik des Erasmus von Rotterdam by Stefan Zweig

Autor:Stefan Zweig [Stefan Zweig]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2012-01-31T23:00:00+00:00


DER GROSSE GEGNER

Selten treten die entscheidenden Mächte, das Schicksal und der Tod, ohne Warnung an den Menschen heran. Jedesmal senden sie einen leisen Boten voraus, aber verhüllten Antlitzes, und fast immer überhört der Angesprochene den geheimnisvollen Ruf. Unter den unzählbaren Briefen der Zustimmung und der Verehrung, die Erasmus in jenen Jahren das Pult überfüllten, findet sich auch einer vom 11. Dezember 1516 von Spalatinus, dem Sekretär des Kurfürsten von Sachsen. Mitten zwischen bewundernden Formeln und gelehrten Mitteilungen erzählt Spalatin, in seiner Stadt fühle sich ein junger Augustinermönch, der Erasmus aufs höchste verehre, in der Frage der Erbsünde nicht gleichen Sinnes mit ihm. Er pflichte nicht der Ansicht des Aristoteles bei, man werde gerecht, indem man gerecht handle, sondern er glaube seinerseits, nur dadurch, daß man gerecht sei, käme man in den Stand, richtig zu handeln; »erst muß die Person umgewandelt sein, dann erst folgen die Werke«.

Dieser Brief stellt ein Stück Weltgeschichte dar. Denn zum erstenmal richtet Doktor Martin Luther – kein anderer ist jener ungenannte und noch unberühmte Augustinermönch – an den großen Meister das Wort, und sein Einwand berührt merkwürdigerweise bereits jetzt das Zentralproblem, in dem sich später diese beiden großen Paladine der Reformation als Feinde gegenüberstehen werden. Freilich, Erasmus liest damals jene Zeilen nur mit halber Aufmerksamkeit. Wie fände der vielbeschäftigte, von der ganzen Welt umworbene Mann auch Zeit, mit einem namenlosen Mönchlein irgendwo im Sächsischen ernsthaft über theologica zu disputieren; er liest vorbei, ahnungslos, daß mit dieser Stunde eine Wende in seinem Leben und in der Welt begonnen. Bisher stand er allein, Herr Europas und Meister der neuen evangelischen Lehre, nun aber ist der große Gegenspieler aufgestanden. Mit leisem, kaum hörbarem Finger hat er an sein Haus und an sein Herz geklopft, Martin Luther, der hier sich noch nicht mit Namen nennt, den aber bald die Welt den Erben und Besieger des Erasmus nennen wird.



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