Susanna by Alex Capus

Susanna by Alex Capus

Autor:Alex Capus [Capus, Alex]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: History
Herausgeber: Carl Hanser Verlag
veröffentlicht: 2022-08-15T00:00:00+00:00


Als wäre der Alltag ein flüchtiger Traum

Die Dampffähre arbeitete sich schräg gegen die Strömung über den Fluss. Es hatte aufgehört zu regnen, die Sicht auf Brooklyn klarte auf. Schon war das Gewimmel der Menschen und Fuhrwerke auf den Piers zu sehen, in wenigen Minuten würde das Ufer erreicht sein. Susanna dachte an das sanfte Inselvolk, das am Ufer des East River tausend Jahre lang in Frieden und ohne jeden Drang nach Fortschritt oder Expansion gelebt hatte, an seine Dörfer ohne Befestigung und die einfachen Häuser aus Schilf und Holz, an die Fischernetze am Strand und die nackten Kinder im Wasser, und an die steinernen Spitzhacken in den Gärten und die bunt bemalten Kanus, in denen wohlgewachsene, schöne Menschen pfeilschnell über den jungfräulichen Fluss geglitten waren, bis die Holländer kamen und ihnen die Insel Manhattan für vierundzwanzig Dollar abkauften.

Sie schloss ihren Regenschirm und hängte ihn an die Reling. Der Umschlag mit den hundertzwanzig Dollar, den der Käsehändler ihr beim Abschied überreicht hatte, fühlte sich gut an in ihrer Tasche. Noch besser fühlte sich der Zwanzigdollarschein an, den er ihr aus Dankbarkeit zusätzlich in die Hand gedrückt hatte.

Sie freute sich auf den Abend. Zuerst würde sie Christie vom Kindergarten abholen und auf dem Heimweg in der französischen Bäckerei zwei Baguettes kaufen, dann würden sie mit der Mutter und Valentiny zu Abend essen, und wenn Christie im Bett war, würde sie noch eine Stunde oder zwei im Atelier arbeiten.

Valentiny und Maria waren beide gealtert in den letzten Jahren. Er hatte sich lange einen Anschein jugendlicher Geschmeidigkeit bewahrt, wie es vielen Blonden gelingt, wenn sie nicht dick werden und keine Glatze bekommen, und auch Maria, für die es immer eine Frage der Erziehung und des guten Geschmacks gewesen war, niemals krank, gebrechlich oder hilfsbedürftig zu erscheinen, hatte sich mit einer Aura von Alterslosigkeit umgeben. Allmählich aber war Karls Haar doch schütter geworden, und auch Maria hatte nach dem siebzigsten Geburtstag ihre rheumatischen Beschwerden nicht mehr verbergen können.

Früher waren sie oft ins Theater, ins Konzert oder ins Restaurant gegangen, aber jetzt nicht mehr. Maria ermüdete nun rasch. Meist schrieb sie nach dem Abendessen noch ein paar Anweisungen für die Haushälterin, dann verabschiedete sie sich für die Nacht und ging zu Bett. Die Schlafzimmertür ließ sie offen. Sie konnte besser einschlafen, wenn sie Karl im Blick hatte, wie er am Kaminfeuer saß und las. Wenn sie das Rheuma plagte, rief sie nach ihm. Dann brachte er ihr Laudanum.

Valentiny war ein fürsorglicher und zufriedener Ehemann. Mehr als drei Jahrzehnte war es nun her, dass ihm diese Frau mit ihrem Kind zugelaufen war wie eine heimatlose Katze. Er wunderte sich immer noch, wie sie unangemeldet so arg- und schutzlos an seiner Tür hatte stehen können, als wäre das lange so verabredet und gar nicht anders möglich gewesen. Dabei hatte es in Basel keine Vertraulichkeiten zwischen ihnen gegeben, keine langen Blicke und kein Getändel, und schon gar kein Getuschel über eine gemeinsame Flucht. Selbstverständlich hatte er sich gefreut, seine ehemalige Gastgeberin und Beschützerin nun seinerseits beherbergen zu können. Aber



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