Südosteuropa by Calic Marie-Janine

Südosteuropa by Calic Marie-Janine

Autor:Calic, Marie-Janine
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783406698316
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2016-10-03T16:00:00+00:00


Abb. 18: Fahrplan der österreichischen Dampfschiffahrtsaktiengesellschaft «Dalmatia», um 1910

Globale Lebensläufe besaßen auch jene Menschen, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts massenweise ihre Heimatländer verließen, um als Arbeiter in der Neuen Welt Fuß zu fassen. Die häufigste Zielregion waren die USA, jedoch brachen auch sehr viele Migranten nach Kanada, Lateinamerika, Südafrika, Neuseeland und Australien auf. Zwischen 1880 und 1914 erreichte die atlantische Migration aus Gesamteuropa ihren Höhepunkt, die aus Südosteuropa sogar erst nach 1900. Der hohe Bevölkerungsüberschüsse produzierende demografische Übergang manifestierte sich hier später als in West- und Mitteleuropa, und auch politische Restriktionen wirkten hemmend: Aus Österreich-Ungarn durfte man seit 1867, aus dem Osmanischen Reich aber erst nach 1892 auswandern. Von 1900 bis zum Ersten Weltkrieg verließen 738.500 Südosteuropäer ihre Heimat in Richtung Amerika: 250.000 Griechen, 80.000 Bulgaren und 83.000 Rumänen, aber nur 1500 Serben. Über 200.000 brachen aus Kroatien und Slawonien auf und weitere 124.000 aus der europäischen Türkei.[126]

Im Gegensatz zu Nikola Tesla emigrierten die meisten Menschen aus bitterer wirtschaftlicher Not. Es mangelte an Arbeit, und die sozialen Bindungen der traditionellen Großfamilie lösten sich auf. Gleichzeitig lockten die aufstrebenden Industriestaaten in Übersee mit sicheren Löhnen. Und das moderne Transportwesen stellte endlich auch die praktischen Möglichkeiten bereit, einer schier ausweglos erscheinenden wirtschaftlichen Lage zu entfliehen. Agenturen und Dampfschifffahrtsgesellschaften warben jetzt gezielt in Südosteuropa ungelernte Arbeitskräfte für Bergwerke und Fabriken an. Sie organisierten auch die Überfahrt. Aus Ungarn, Kroatien und Dalmatien fuhren die Auswanderer dann mit der Bahn zum Hafen von Fiume oder zur Weiterreise mit dem Dampfschiff direkt nach Hamburg, Bremerhaven oder Cherbourg.[127] Werbeagenturen verbreiteten Plakate und Flugschriften, und ebenso zeichneten Emigranten in ihren Briefen gerne das stark geschönte Bild vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten. «Die Vorstellung, dass Amerika eine Goldmine ist, aus der man Gold-Dollars ausgraben kann und als reicher Mann in die Heimat zurückkehrt, kann man vergessen», warnte aber 1909 die Zeitschrift «Slovenec» (Der Slowene). «Hier findet man nur schwer Arbeit und man muss für den Lohn hart schuften.»[128]

Außer ökonomischen gab es auch politische Motive auszuwandern. Viele Angehörige der Nationalitäten wollten zum Beispiel dem Militärdienst im Habsburgerreich entkommen. Wegen der antisemitischen Repression emigrierten zudem zwischen 1881 und 1914 etwa 125.000 Juden aus Rumänien nach England, Amerika, Australien und Palästina. Darunter waren auch die erbarmungswürdigen «Fusgeyers», also jene, die sich auf wochenlangen Fußmärschen von Jassy, Brăila oder Galatz außer Landes durchschlugen. Jüdische Organisationen halfen ihnen dort bei der Weiterreise.[129]

Die große Mehrheit der Auswanderer war männlich, jung, unqualifiziert, mittellos und alleinstehend, aber überdurchschnittlich viele von ihnen konnten lesen und schreiben.[130] Viele stammten aus klassischen Migrationsgebieten auf dem südlichen Balkan. «Früher sind sie hauptsächlich nach Rumänien gegangen … und haben als Maurer und Zimmerleute gearbeitet», schrieb 1914 ein Experte. «Aber jetzt gehen sie immer häufiger nach Nordamerika, wo sie als Tagelöhner in Fabriken, Schlachthöfen und bei den Eisenbahnen arbeiten.»[131] Je unangenehmer und gefährlicher die Arbeitsbedingungen an Fließbändern, automatischen Webstühlen, im Kohleabbau und in den Stahlwerken waren, desto eher wurden Immigranten aus Südosteuropa eingestellt. Die qualifizierten Dauerstellen blieben dagegen in der Regel den Einheimischen vorbehalten.

In vielen Regionen milderte die Arbeitsmigration das Problem der ländlichen Unterbeschäftigung – der demografische Nettoüberschuss sank spürbar.



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