Sonntags Tod by Carla Berling
Autor:Carla Berling
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Carla Berling
veröffentlicht: 2013-09-25T16:00:00+00:00
Am nächsten Morgen sah Ira noch so verheult aus, dass ihre Sitznachbarin Verena fragte, was los sei. Sie konnte nicht antworten, weil sie sofort wieder anfing zu weinen.
Ira hatte Angst vor Frau Detering, und sie schämte sich, weil sie den Eltern eine solche Blamage bereitet hatte. Sie hasste den Hausarrest, der vor ihr lag und überhaupt war sie todunglücklich.
Frau Detering schaute sie komisch an. Sie sollten die Fibeln rausholen. Ira bekam einen heiÃen Kopf als sie Vorlesen sollte und konnte keinen Ton sagen.
»Ira, du kommst nach der groÃen Pause mal zu mir ins Lehrerzimmer«, sagte Frau Detering, aber sie sagte es eigentlich ganz nett. Iras Herz schlug wild und ihre Augen wanderten hektisch von einem Mitschüler zum anderen, ja, sie glotzten und gafften und waren gierig auf eine kleine Sensation. Ira sah es an ihren Gesichtern.
In der Pause hakte Verena sie unter und zog sie auf dem Schulhof unter die Linde am kleinen Tor, gegenüber der Einfahrt zum Hof Eskendor. Sie setzten sich auf die Holzbank, die um den dicken Stamm gebaut war.
»Sag schon!«, forderte Verena sie auf, und Ira erzählte ihr alles. Sie erzählte von ihrer Mutter, die oft ungerecht war und nie wieder ein Blag haben wollte, von den Hausaufgaben, die sie nie gemacht hatte, von Frau Detering und ihrer Schwindelei mit dem Auto und von Mutters Ohrfeigen gestern Abend. Verena hörte aufmerksam zu. Als sie fertig war, nahm sie Ira fest in den Arm und sagte: »Sei froh, dass du ne Mama hast. Meine ist tot.«
Ira stockte der Atem. Das hatte sie nicht gewusst.
Bilder rasten an ihr vorbei: Keine Mutter, wenn sie nach Hause kam, niemand, der morgens die Kinderzimmertür aufriss und rief: »Sieben Uhr, raus aus den Federn!«, eine leere Küche, in der niemand mit Geschirr klapperte, keine kühle Hand, die ihr ein Fieberthermometer gab, keine Ohrfeigen. Und kein Hausarrest.
Wohin kamen Kinder, wenn sie keine Mutter mehr hatten? Ins Kinderheim Wilhelmshof? Wohin kamen überhaupt tote Mütter? In den Himmel? Und wer kochte den Vätern das Essen, wenn keine Mutter mehr da war?
Verena klemmte sich die Haare hinter die Ohren und sah Ira mit graublauem Blick fest an.
»Sie konnte zum Schluss nur noch in einem Autoreifen sitzen. Sie hatte Krebs in ihrem Unterleib. Es tat ihr alles weh.«
Ira schluckte.
»Ist sie schon lange ... «, sie konnte das Wort schwer aussprechen, tat es aber dann doch, »tot?«
Verena schüttelte den Kopf.
»Seit Winter. An meinem Geburtstag war sie noch da. Aber Weihnachten nicht mehr.« Ira nahm sie fest in den Arm.
Von diesem Moment an waren Ira und Verena unzertrennlich.
Sie gingen nach der Pause zusammen zum Lehrerzimmer. Verena drückte Iras feuchte Hand, als Frau Detering um die Ecke bog und Ira mit gesenktem Kopf auf sie zuging. Frau Detering fasste ihr mit dem Zeigefinger unters Kinn und hob ihren Kopf. »Lügen haben kurze Beine. Du bist ein starkes Kind, Ira, du musst nicht lügen.«
Mehr sagte sie nicht.
Ira spürte heiÃe Tränen die Wangen herunterlaufen. Aus dem Augenwinkel sah sie Verena an der Ecke stehen. Sie war nicht allein.
»Du musst nicht weinen, Kind. Es wird alles gut«, sagte Frau Detering, und Ira liebte sie in diesem Moment heià und innig.
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