Schwestern der Angst - Roman by Mischkulnig Lydia

Schwestern der Angst - Roman by Mischkulnig Lydia

Autor:Mischkulnig, Lydia [Mischkulnig, Lydia]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Haymon
veröffentlicht: 2010-02-17T23:00:00+00:00


Paul war Hirnforscher und wollte nichts mehr dem Zufall überlassen. Er spielte nervös mit einem Perlenkettchen, ließ es um die Finger schnalzen und klappern. Ich sei krank, erklärte er und zwirbelte an den Kügelchen, bis er in der Aufregung auf etwas anderes Lust bekam. Er beförderte mit geschickter Bewegung eine filterlose Zigarette aus dem Päckchen in der Brusttasche seines Hemdes, ohne die Schachtel herauszunehmen, steckte die Filterlose zwischen die Lippen, zündete sie mit einem Schnipper am Feuerzeug an und nahm einen kräftigen Zug. Marie hatte sich zwar den Kopf angeschlagen, aber er kümmerte sich nicht um sie. Ich warf ihm diese Herzlosigkeit nicht vor. Marie weinte hysterisch. Ich hockte im Straßengraben neben dem Wagen und nahm die Schuld am Unfall auf mich. Paul brüllte mich an, ich sei krank, schwer gestört, ein Fall für die Psychiatrie. So ging er mit mir um. Ich hörte nicht hin. Eine schmale, aber doch asphaltierte kleine Straße führte den Stadtberg hinan, schlängelte sich lieblich über den Berghang zur Altstadt. Ich staunte über die dichten Ginsterbüsche, die den Wagen weich betteten. Der Abschleppwagen würde ihn aus dem Graben hieven.

Paul sperrte das Auto nicht ab. Es war zu heiß, um in der prallen Sonne zu sitzen. Marie presste ein Taschentuch auf die Wunde. Wir gingen zu Fuß in die Altstadt. Marie folgte uns mit einigem Abstand und fluchte. Sie war derartig wütend auf mich, dass ich Angst bekam vor ihr.

In der Altstadt roch es nach Kartoffelsuppe, der Duft stieg aus den feucht modernden Mauern. Unwillkürlich suchte ich den Boden nach Pilzen ab, die ich zu Hause immer trocknete und in die Kartoffelsuppe schnitt, um einen speziell nussigen Geschmack zu erzielen. Je weiter ich stieg, umso nüchterner wurde mir. Die Anstrengung erzeugte eine paradoxe Empfindung. Es war heiß und ich schwitzte, doch packte mich ein Schüttelfrost. Ich klapperte mit den Zähnen. Paul wollte, dass ich mich hinsetzte, und gab Marie meinen Koffer, damit sie ihn hochziehe. „Verdammt“, fluchte sie, tat es aber doch. Man muss Schwächen zeigen, um Unterstützung zu bekommen, also tat ich verwirrt. Ich redete von den Pilzen, die ich am Wegesrand halluzinierte und pflücken wollte.

Ich erinnerte mich der Anordnung meines Stiefvaters an Marie, nie die ältere Schwester zu beschimpfen. Kaum war er unter der Erde, brach sie den Eid. Ich setzte mich auf eine Bank und ließ mir aus der Erinnerung ein paar kostenlose Informationen hochsteigen, wobei eigentlich gar nichts kostenlos ist, denn jede Erinnerung hat ihre Zeit gebraucht, Erinnerung zu werden, und das ist viel wert. Zeit ist nicht nur Geld, beides dient zur Klärung meiner Geschichte als Zustand.

Ich wollte Marie nicht an einen Vergewaltiger verlieren. Sie würde andere Partner finden, das könnten professionell geführte Institute für sie erledigen, die eine Interviewtechnik aufbauen, damit man sich auch nicht mit dieser Suche nach sich selbst aufhält. Paul, der Neurologe, schien genau zu wissen, worum es mir ging. Ihn abzuspalten. Er meinte, dass ich überfordert sei, einen Nervenzusammenbruch hätte, Wahnvorstellungen. Dass doch alles gut sei, dass ich mir nicht den Kopf zerbrechen müsse, dass es schön sei, dass ich zum Begräbnis aufgetaucht war.



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