Pellkartoffeln und Popcorn by Evelyn Sanders
Autor:Evelyn Sanders
Die sprache: de
Format: mobi, epub
veröffentlicht: 2010-10-21T08:00:16.921000+00:00
ZWEITER TEIL
»Jrieß is alle, nehm' Se Maismehl!«
18
»Haben wir nun wieder Frieden?«
»Im Augenblick herrscht lediglich Waffenstillstand. Präzise ausgedrückt: Deutschland hat kapituliert.«
»Und worin besteht der Unterschied?«
Meine Mutter erklärte mir, das sei Sache der Politiker, sofern wir noch welche hätten; und davon würde ich sowieso noch nichts begreifen. Im übrigen war mir das auch völlig egal. Endlich wurde nicht mehr geschossen, endlich gab es keinen Alarm mehr, und wir konnten nun auch endlich die Überreste der Verdunklungsrollen abreißen, soweit sie nicht schon zusammen mit den letzten Fensterscheiben herausgeflogen waren. Wir brauchten nicht mehr im Keller zu hausen und schliefen sogar wieder in richtigen Betten.
Aber trotz dieser Herrlichkeiten hatte ich mir unter dem Begriff Frieden doch etwas anderes vorgestellt. Denn es gab keinen Strom, es gab kein Gas und es gab kein Wasser. Letzteres mußte eimerweise von einer Pumpe herangeschafft werden, die einen halben Kilometer entfernt im Eschershauser Weg stand und offenbar die einzige in weitem Umkreis war. Manchmal reichte die Menschenschlange bis zur Onkel-Tom-Straße; und hier lernten wir bereits in den ersten Nachkriegstagen das, was man in den folgenden Jahren getrost unter der Bezeichnung Freizeitgestaltung zu verstehen hatte: Schlangestehen.
Die Trinkwasserbeschaffung, unkompliziert, aber zeitraubend, wurde Lothar und mir übertragen. Ich weiß nicht mehr, wie oft wir täglich losmarschierten, um das kostbare Naß heranzukarren. Jedenfalls kam der ehemals weiße, jetzt aber in allen Grautönen schimmernde Kinderwagen, in dem ich einen Teil meiner Säuglingszeit verbracht hatte, noch einmal zu Ehren. Als ich nicht mehr drinlag, benutzte Omi ihn, um Wäsche zum Mangeln zu fahren oder die rationierten Einkellerungskartoffeln zu holen, dann hatte ich ihn zum Altpapiersammeln gebraucht, und nun transportierten wir darin unsere Wassereimer. Zwei Tage, bevor aus den Leitungen plötzlich eine bräunliche Flüssigkeit tropfte, gab der Kinderwagen seinen Geist auf und blieb zwanzig Meter vor unserer Haustür mit gebrochener Achse liegen. Wir montierten die Räder zum Zwecke der Weiterverwendung ab, trugen das Wrack auf einen der jetzt zugeschütteten Splittergräben, und es wurde zu unserer Flugzeugkanzel oder zum Rennauto, bis ein Russe das Ding requirierte und zur Futterkrippe für sein Panjepferdchen umfunktionierte.
Unsere sowjetische Stammbesatzung war abgezogen, und mit ihr Gulaschkanonen und Zusatzverpflegung. Hinterlassen hatte sie das mit Scherben und Abfall übersäte Müllhaus, diverse Zentner Pferdeäpfel und ein allgemeines Aufatmen, weil wir ja noch verhältnismäßig glimpflich davongekommen waren.
Diese Freude dauerte genau 24 Stunden, dann kamen neue Besatzer, und mit ihnen das, was in einem deutschen Staat unerläßlich ist, nämlich die Bürokratie. Zuerst einmal wurden wir registriert. Über die notwendigen amtlichen Unterlagen verfügte Herr Bentin, der dann auch folgerichtig zum Obmann ernannt wurde und nunmehr - statt mit Hakenkreuzbinde - mit einem weißen Lappen am Arm herumlief, um seine neuerworbene Bedeutung auch nach außen hin zu demonstrieren.
Herr Bentin machte eine Bestandsaufnahme. Bei uns war nicht viel aufzunehmen. Bei Omi auch nicht. Beide Wohnungen waren ordnungsgemäß von langjährigen Mietern belegt. Auch Herr Leutze wohnte nachweisbar seit zehn Jahren hier und versicherte glaubhaft, daß mit der Rückkehr seiner Frau und dem Anfang April nach Thüringen getürmten Sohn wohl bald zu rechnen sei. Die Wohnung der verwitweten Frau Regierungsrat war nach deren Auszug sporadisch belegt gewesen und stand jetzt leer.
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