Parallelgeschichten by Péter Nádas

Parallelgeschichten by Péter Nádas

Autor:Péter Nádas [Nádas, Péter]
Die sprache: de
Format: mobi
Tags: Roman
ISBN: 9783644016316
Herausgeber: Rowohlt Digitalbuch
veröffentlicht: 2012-02-06T23:00:00+00:00


Jüngstes Gericht

Zum Südtor, kam es aus dem Lautsprecher, die gewohnte frühmorgendliche Musik unterbrechend.

Kammer, zum Südtor.

Man hätte nicht sagen können, dass er seine Lage nicht richtig einschätzte. Wer zum Südtor gerufen wurde, den räumte man ein für alle Mal aus dem Weg.

Langsam floss die Niers.

Seiner Veranlagung nach war er jemand, der selten dachte, keine Lösungen oder Auswege finden zu können. Er atmete schwerer, beziehungsweise er hatte das Gefühl, er müsse mit seinem schwer gewordenen Körper an die Luft hinaus. Dieses eine Mal gab es keinen Ausweg. Er würde nicht davonkommen. Seit Tagen rechnete er damit, dass ihn die träge Strömung des Wassers mitstrudeln würde. Man hörte die Schüsse vom Fluss her, und noch gut, wenn sie für jemanden Munition vergeudeten. Es gab aber einen kleinen, flüchtigen Augenblick, in dem er doch noch hoffte. Dieser Mann, den er mehr als sein Leben liebte, mehr als seine längst vergessene Frau, mehr als seine Gelegenheitsgeliebten, in diesem langen Augenblick erinnerte er sich an die alle gleichzeitig, mehr als an seine Kinder, dieser Mann stand da, kaum zwei Schritte entfernt, am dunkelbraunen, leeren Tisch des Blockältesten im harten Licht der Lampe. Ein bleicher, zarter junger Mann, aber stark und agil, mit einem vor Draufgängertum leicht gekrümmten Rücken, einer, dem sozusagen alles erlaubt war; er brauchte nicht kahl geschoren herumzulaufen wie die anderen. Auf seinem wohlgeformten Schädel saß wirr gekräuseltes, volles Haar mit goldrotem Schimmer.

Mindestens einmal in der Woche wurde er für Sonderaufgaben geholt. Kleider sortieren für die Wäscherei, was meistens auch wirklich Kleidersortieren und Stapeln bedeutete, hin und wieder aber auch anderes. Im Lager nahm man das wahr, spezielle Beziehungen hatten ihren geschäftlichen Wert. Eisele, ein stets fesch angezogener, sehr unbarmherziger Mann, Adjutant des Lagerkommandanten, leitete die Arbeiten persönlich. Um diese Zeit war es draußen noch dunkel. Wenn der Lautsprecher schwieg, war das starke Artilleriefeuer zu hören. Der Kanonenofen glühte rot. Auf den kalten, in Vierecke eingeteilten kleinen Fenstern floss und tropfte die Nacht mit jedem ihrer Atemzüge. Er diskutierte mit jemandem, mit dem Bulla, klar, die machten Geschäfte, er redete eindringlich, ließ dazu seine weißen Hände im Lampenlicht blitzen.

Der kommt vielleicht davon, dachte Kammer.

Das war sein erster deutlicher Gedanke und die letzte große Hoffnung seines Lebens. Er durfte es dem Jungen nicht übelnehmen, wer überleben will, muss Geschäfte machen.

Noch immer waren die Kessel mit dem Frühstück nicht gebracht worden.

Seit gut zwei Jahren wusste er nicht mehr, ob die Seinen noch am Leben waren. Seit zwei Jahren durften auch politische Häftlinge keine Postkarten mehr bekommen, und falls sie lebten und gesund waren, so war das gut, noch besser, wenn sie nicht lebten, bei einem Luftangriff umgekommen waren. Lieber stellte er es sich so vor, er würde ja wohl nie mehr zu ihnen zurückkehren. Gäbe es einen Gott, würde er Peix mehr als ihn lieben, aber Gott zeigte sich nicht, weder in den Dingen noch in den Personen. Auch so liebte er ihn stark genug und tat alles, um ihn noch mehr zu lieben, aber auch dafür fand er keinerlei Erklärung und konnte zuweilen seinen Widerwillen gegen den Jungen kaum unterdrücken.



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