Ostpreußen ade by Ralph Giordano
Autor:Ralph Giordano [Giordano, Ralph]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 978-3-462-30937-9
Herausgeber: Kiepenheuer & Witsch Verlag
veröffentlicht: 2015-07-29T16:00:00+00:00
Wir haben unsere Koffer nie so richtig ausgepackt
Stefan Łaszyn war vier Jahre alt, als die Eltern im April 1947 von der »Aktion Weichsel« erfasst wurden und ihren Heimatort in Südostpolen binnen 48 Stunden verlassen mussten. Der heute Fünfzigjährige erinnert sich noch genau daran, wie er zwischen den Waggons herumlief mit blutender Nase – die Mutter hatte ihn geschlagen, weil er so tobte.
»Eine andere Erinnerung ist viel schlimmer. Wir hatten in der Nachbarschaft einen Jungen, der war geistig behindert. Als die Soldaten kamen, wusste er natürlich nicht, worum es ging, sondern fühlte sich bedroht. Also nahm er einen Stock und wollte sich mit ihm wehren. Da hat ihn einer der polnischen Soldaten erschossen, einfach so – peng.«
Stefan Łaszyn, Jahrgang 1943, und seine Frau Katarzyna, 1946 geboren, haben in Olsztyn zum Abendbrot eingeladen. Er kommt aus einem Ort nördlich von Lvov, in dem von 3100 Einwohnern 2500 Ukrainer und nur 600 Polen waren, sie stammt aus der Nähe von Lublin, von wo auch ihre Familie im Rahmen der »Aktion Weichsel« vertrieben worden ist. Auf ihre Anordnung holt Jerzy, der 21-jährige Sohn, eine alte Karte, über die Katarzyna Łaszyn kurz mit dem Finger fährt und dann enthusiastisch ausruft: »Es hieß Żurawce – und war das schönste Dorf der Welt!«
»Woher wissen Sie das?« frage ich, noch ihr Geburtsjahr im Ohr, verblüfft, »Sie waren doch erst ein Jahr, als es von dort wegging.«
Nun schaut mich Katarzyna Łaszyn ihrerseits ungläubig an und sagt dann, als wäre es die natürlichste Sache der Welt: »Von der Mutter, sie hat jedes Haus, jede Straße im Gedächtnis und hat mir alles erzählt, immer wieder.«
»Auch Ihr Vater?«
»Mein Vater ist getötet worden von den Russen, als sie unser Haus in Brand steckten.«
Katarzyna Łaszyn ist eine kleine, zarte Frau, deren Lächeln aus den Augen kommt, von innen her. Und wenn es wie eben erlischt, ist es gleich wieder da.
Stefan Łaszyn ist kaum einen halben Kopf größer als sie, mit dicken Brauen, aber gelichtetem Kopfschmuck, während Sohn Jerzys junges Gesicht durch den Kinn- und Backenbart wohl älter wirken soll, es aber keineswegs tut.
Biografisches vom Vater.
Nach Grundschule, Höherer Pädagogischer Schule in Ostróda (Abitur 1962) und fünfjährigem Pädagogikstudium macht Stefan Łaszyn an der Universität von Warschau seinen Doktor. 1974 wird er Professor an der Pädagogischen Hochschule in Olsztyn, wo er sich auf die Ausbildung von Lehrpersonal für Kindergärten und erste Schulklassen spezialisiert. Nach drei Jahren bringt er es dort zum Dekan, hält sich dann vier Jahre, von 1985 bis 1989, am Pädagogischen Institut in Moskau auf, ehe er an die Pädagogische Hochschule in Olsztyn zurückkehrt. Und dort, wo Stefan Łaszyn mittlerweile seit Jahrzehnten eine leitende Stellung hat, wird, wie einem Nebensatz von ihm zu entnehmen ist, »nie darüber gesprochen, dass ich Ukrainer bin«.
Es verschlägt mir die Sprache. Da ich weiß, dass er der stellvertretende Vorsitzende des ukrainischen Lehrerverbands ist und überhaupt aktiv am sozialen und kulturellen Leben der organisierten Minderheit teilnimmt, muss ich auf die Marginalie hin ein einigermaßen dummes Gesicht gemacht haben. Während Stefan Łaszyn sofort die Ursache dafür begreift, spüre ich, dass ich einen Punkt berührt habe, über den der Gastgeber nicht gerne spricht.
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