Mein New York by Auster Paul

Mein New York by Auster Paul

Autor:Auster, Paul [Auster, Paul]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2015-01-26T16:00:00+00:00


«Gehen Sie in die Küche», sagte er, «und bitten Sie Mrs. Hume um das Fahrgeld für die U-Bahn. Dann ziehen Sie Mantel und Handschuhe an und gehen aus der Tür. Fahren Sie mit dem Lift nach unten, und gehen Sie zur nächsten U-Bahn-Station. Dort kaufen Sie zwei Marken. Stecken Sie eine der Marken in Ihre Tasche. Die andere stecken Sie in das Drehkreuz, dann gehen Sie runter und steigen in die Bahn Nummer 1 Richtung Süden. An der 72nd Street steigen Sie aus, überqueren den Bahnsteig und warten auf den Downtown-Express – Nummer 2 oder 3, das ist egal. Wenn die Türen aufgehen, steigen Sie ein und suchen sich einen Sitzplatz. Die Rush-hour ist jetzt vorbei, also dürften Sie damit keine Schwierigkeiten haben. Sie setzen sich hin und sprechen mit niemandem ein Wort. Das ist sehr wichtig. Ich wünsche, dass Sie vom Verlassen des Hauses bis zu Ihrer Rückkehr keinen Ton von sich geben. Keinen Piepser. Spielen Sie den Taubstummen, wenn jemand Sie anspricht. Wenn Sie am Schalter Ihre Marken kaufen, heben Sie einfach zwei Finger, um anzuzeigen, wie viele Sie haben möchten. Sie bleiben auf Ihrem Platz im Express sitzen, bis Sie zur Grand Army Plaza in Brooklyn kommen. Die Fahrt dürfte dreißig bis vierzig Minuten dauern. Ich wünsche, dass Sie in dieser Zeit die Augen geschlossen halten. Denken Sie so wenig wie möglich – am besten gar nichts –, und sollte das zu viel gebeten sein, dann denken Sie an Ihre Augen und die außerordentliche Fähigkeit, die Sie besitzen: Sie können die Welt sehen. Stellen Sie sich vor, was aus Ihnen werden würde, wenn Sie nicht sehen könnten. Stellen Sie sich vor, Sie würden irgendetwas unter den verschiedenen Beleuchtungen betrachten, in denen die Welt für uns sichtbar wird: Sonnenlicht, Mondlicht, elektrisches Licht, Kerzenlicht, Neonlicht. Dieses Etwas sollte ein ganz simpler und gewöhnlicher Gegenstand sein. Zum Beispiel ein Stein oder ein kleiner Holzklotz. Denken Sie sorgfältig darüber nach, wie das Aussehen dieses Gegenstandes sich unter diesen verschiedenen Beleuchtungen jeweils ändert. Weiter denken Sie nichts, falls Sie denn überhaupt denken müssen. Wenn die U-Bahn Grand Army Plaza erreicht, machen Sie die Augen wieder auf.

Ich hielt meine Augen in der Bahn geschlossen, doch war es schwierig, an nichts zu denken. Ich versuchte mich auf einen kleinen Stein zu konzentrieren, aber auch das war schwieriger, als man glauben könnte. Um mich herum war es zu laut, zu viele Leute redeten und drängelten sich an mich. Damals gab es in den Waggons noch keine Lautsprecher, die die Haltestelle ansagten, und ich musste im Kopf mitverfolgen, wo wir gerade waren, zählte an den Fingern die Haltestellen ab: eine weniger, blieben noch siebzehn; zwei weniger, blieben noch sechzehn. Zwangsläufig musste ich den Gesprächen der Passagiere zuhören, die in meiner Nähe saßen. Ihre Stimmen drängten sich mir auf, dagegen konnte ich überhaupt nichts machen. Bei jeder neuen Stimme, die ich hörte, wollte ich die Augen aufmachen, um den dazugehörigen Menschen zu sehen. Diese Versuchung war fast unwiderstehlich. Sobald man jemanden sprechen hört, macht man sich im Geist ein Bild von ihm.



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