Mittagsstunde by Dörte Hansen
Autor:Dörte Hansen [Hansen, Dörte]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Penguin Verlag
veröffentlicht: 2018-10-14T22:00:00+00:00
Es war schon fast halb neun, als er mit seinem zellophanverpackten Korb im Arm die Wohnungstür aufschloss, er hörte Stimmen aus der Küche und die Billie-Holiday-Musik, die Claudius fast immer spielte, wenn er kochte. Ragnhild hatte offenbar den Schlüssel in der Tür gehört, sie kam ihm schon im Flur entgegen, fiel ihm um den Hals, er musste erstmal den Präsentkorb abstellen. Ragnhild sagte nichts, sie drückte ihn nur an sich, quetschte ihn fast ein, es war ein bisschen unheimlich. Normalerweise konnte man schon froh sein, wenn sie sich umarmen ließ.
Er machte sich ein bisschen los. »Hallo, junge Frau«, und küsste sie. »Herzlichen …«
Ragnhild sagte: »Hör bloß auf. Ich dreh gleich durch.« Dann ging sie einen Schritt zurück und sah ihn an, fuhr mit der Hand durch seine Haare, zog ihre Augenbrauen hoch und sagte: »Ganz anders. Mensch.« Sie nickte langsam, scheinbar wusste sie noch nicht, wie sie es finden sollte. Ihre Augen waren rot, die Nase angeschwollen, wie nach langem Weinen.
Er strich ihr mit dem Daumen über ihre Wange, sah sie fragend an. Sie zog ihn durch den Flur, schnell an der Küchentür vorbei und in sein Zimmer, schloss die Tür und lehnte sich dagegen. Die meisten Frauen wurden runder mit den Jahren, Ragnhild wurde eckiger, sie war sehr schmal und trug ein dunkelblaues Kaschmirkleid, das er nicht kannte. Auch diese Silberkette und die Schuhe waren neu. Ihr Haar sah aus, als wäre sie gerade beim Friseur gewesen, keine grauen Strähnen mehr, es schimmerte kastanienbraun. Ingwer hatte sie seit Jahren nicht in einem Kleid gesehen, in solchen Schuhen wohl noch nie.
»Umstyling«, sagte Ragnhild, zeigte auf sich selbst. »Geschenk von Beatrice zum Fünfzigsten. Dreißig Klamottenläden, zwanzig Schuhgeschäfte, vier Stunden beim Friseur. Jetzt sehe ich aus wie meine Mutter. Super.« Ihre Stimme knickte weg. Sie stemmte ihre Hände in die Hüften, sah ihn an, versuchte, nicht zu heulen. »Und jetzt kommst du hier auch noch an und siehst auf einmal aus wie so ein Typ aus dem scheiß Marco-Polo-Katalog. Mann, Ingwer.« Jetzt heulte sie wirklich.
Vielleicht war Fünfzig doch nicht einfach eine Zahl. Ragnhild Dieffenbach sah gerade nicht so aus, als ob sie dieser Tag NULL interessierte. Sie rutschte mit dem Rücken an der Zimmertür herab, bis sie auf dem Parkettfußboden saß, die Beine ausgestreckt, den Rücken rund, wie eine Marionette mit gekappten Fäden.
Ingwer hörte Stimmen auf dem Flur, ein lautes Lachen, »Boah, wie fies ist das denn? Guck mal hier, die goldene Fünfzig! Oh Gott, die Wurst!« Scheinbar hatten Ragnhilds Doppelkopfkolleginnen den Präsentkorb entdeckt. Ihm schwante, dass es nicht die allerbeste Geschenkidee gewesen war.
Er setzte sich zu Ragnhild auf den Boden, legte seinen Arm um sie und sagte: »Komm, jetzt entspannen wir uns erst mal.« Fummelte ein Päckchen Taschentücher aus der Hosentasche, gab ihr eins, dann strich er über ihre weiche Kaschmirwolle. »Very Bridge Club«, sagte er, »jetzt fehlt dir bloß noch die Anstecknadel der Rotarier.«
Ragnhild schnaubte, was fast wie ein Lachen klang. Aus der Küche kam ein Scheppern wie von einer Pfanne oder einem großen Topf. Dann ein Aufschrei, »Huch!«, und aufgeregte Stimmen.
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