Justizpalast by Petra Morsbach

Justizpalast by Petra Morsbach

Autor:Petra Morsbach
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Albrecht Knaus Verlag
veröffentlicht: 2017-11-21T16:00:00+00:00


Das Glück

Unten in der Stadt warteten die Urlaubsstapel. Noch im Vorjahr waren sie Thirza wie schwere graue Wogen erschienen, die sich den Oktober über aufbauten, um die Richterin zu überrollen, sowie sie nach den Ferien das Büro aufschloss. Jetzt war es einfach Papier, das weggeschafft werden musste. Lesen, besprechen, beurteilen, verwalten, verhandeln, man kennt ja schon fast alles. Wenn man ausgeruht ist, geht es einem leichter von der Hand.

Und wenn man im Urlaub mehr erlebt, ist auch der Geist erfrischt. Max fuhr kaum je zweimal an denselben Ort. Auf die Schweiz folgten Sizilien, Apulien, die Provence. Grenzen öffneten sich, die Mark wurde zum Euro. Noch leichteres Reisen: Tschechien, Polen, Baltikum, vitale Länder mit beeindruckenden Kulturen, von denen man keine Ahnung gehabt hatte. Die jungen Demokratien kämpften um Anschluss, man sah den Preis – die Vietnamesenmärkte, die Prostituierten an den Grenzstraßen –, aber auch die zunehmend großzügig renovierten Stadtzentren, die originellen Läden und Lokale, Ausweis von Initiative und Kreativität. Natürlich, Wunden mussten geheilt werden. In Kroatien sah man zerschossene Häuser und Ruinen, Massaker-Gedenkstätten, empörte Museen. Aber: Europa im Frieden. Europa erblühend. Nach jeder Heimkehr ein neuer Blick aufs eigene Land.

Dieser Blick, in zwei für Thirza wesentlichen Ausschnitten, setzte sich zusammen aus Autobahn und Arbeit. Zuerst auf der Heimreise vom Urlaub der rasende Verkehr: mehr Autos als überall sonst, keine Geschwindigkeitsbegrenzung, im Rückspiegel heranschießende schwarze Limousinen, man fühlt sich in einem Land von Wahnsinnigen. Zweitens, von der Straße weg, wieder eingerichtet im normalen Leben zwischen Pasing, S-Bahn und Justizpalast: die Ordnung. Das privilegierte Leben. Was für ein sauberes, begünstigtes, wohlhabendes Land! Seltsam nur: Seine Bürger stritten und stritten. Wer Eigentum hat, möchte noch mehr Eigentum, wer es gut hat, will es besser haben. Damit das Geld kursiert, muss man es einander aus der Tasche locken, über Angebot, Suggestion, Manipulation, wobei die Grenzen zu Betrug und Selbstbetrug fließend sind wie in allen menschlichen Dingen. Kurz: Der große Kreislauf des Geldes wird von menschlichen Unwuchten bewegt. Aus Gerichtsperspektive scheint jeder mit jedem zu streiten, das ganze reiche Land eine Horde von hereingelegten und hereinlegenden, erschrockenen und erbosten, beleidigten und wütenden Bürgern. Sie hatten mehr Rechte denn je in ihrer Geschichte und mehr Rechte als fast alle Bürger sonst auf der Welt, und was taten sie? Sie litten und tobten. Sie prozessierten sich um Kopf und Kragen.

Die demokratische Vernunft sagt: Gut, dass sie Rechte haben und streiten; viel schlimmer wäre der andere Fall, nicht nur für sie, sondern für das ganze Gemeinwesen. Staaten ohne Gerechtigkeit sinken zu großen Räuberbanden herab (Augustinus).

Die moralische Vernunft sagt: Klar, aber könnten sie nicht mal um was Wesentlicheres streiten als um den eigenen Vorteil? Wie wäre es mit Demokratie, Transparenz, Gerechtigkeit?

Die historische Erfahrung sagt: Beides hängt zusammen. Immer streiten die meisten um das Falsche und wenige um das Richtige. Aber für diese wenigen brauchen wir die richtigen Gesetze. Die zivilisatorische Entwicklung verläuft indirekt, kaum je linear. Die wichtigsten Errungenschaften wurden durch Verluste erreicht, und wir verdanken sie Verlierern. Wer will das sein? Er melde sich!

Thirza: Alles klar, sollen sie streiten.



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