Jeder für sich und Gott gegen alle by Werner Herzog

Jeder für sich und Gott gegen alle by Werner Herzog

Autor:Werner Herzog [Herzog, Werner]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Biografie
Herausgeber: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
veröffentlicht: 2022-08-21T22:00:00+00:00


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Tanz auf dem Seil

Vieles in meinem Leben erscheint mir wie auf einem Hochseil, ohne dass ich die meiste Zeit überhaupt bemerkte, dass links und rechts neben mir ein Abgrund gähnte. Es ist kein Zufall, dass ich mit Philippe Petit befreundet bin, der berühmt wurde, als er 1973 kurz vor der Eröffnung der Twin Towers des World Trade Center in New York ein Seil zwischen beiden Wolkenkratzern spannte, auf dem er dann in schwindelerregender Höhe tanzte. Er hatte mich schon 1969 gesucht und gefunden, als Lebenszeichen in New York auf dem Filmfestival lief. Zu dem Zeitpunkt plante er seine Aktion an den Twin Towers bereits lange Zeit. Kurz vor unserem Aufeinandertreffen hatte er an der tiefsten Schlucht Europas in Savoyen einen heimlichen Coup vollbracht. Nachts spannte er ein Seil über den Abgrund, und beim ersten Tageslicht begab er sich darauf, und nur durch Zufall sah ihn ein Bauer, der in der Nähe seine Kühe über eine Brücke auf die Weide trieb. Der Bauer ließ seine Kühe, wo sie waren, rannte ins Dorf zurück und weckte den Polizisten auf. Bis beide am Ort der schönen Tat angekommen waren, war nichts mehr da. Philippe war verschwunden. Seine Helfer hatten das Seil rasch abgebaut, nur noch einige tief in die Erde geschlagene Eisenstangen erinnerten daran, wo es verankert gewesen war. Bei den Twin Towers in New York wiederum hatte er sich schon Jahre zuvor mit falschen Papieren in eine Kolonne von Schweißern eingeschmuggelt und dann sogar zum Schein eine Baufirma gegründet, die in einem der noch unfertigen Türme ein Büro bezog. Dort im Büro legte er sich nach und nach ein Lager für das Stahlseil und die sonstigen Geräte an. Von einem der Dachplateaus aus schoss er schließlich einen Pfeil auf das Zwillingsgebäude hinüber, an dem eine dünne Angelschnur befestigt war. Helfer fingen die Schnur auf und befestigten einen dünnen Stahldraht an ihr, an dem dann wiederum im Hin und Her ein dünnes Kabel befestigt wurde. Daran wurde schließlich sein etliche Tonnen schweres Stahlseil auf den anderen Turm gezogen, wo Philippe sich bereits heimlich unter einer Verschalung einen schweren Haken zur Verankerung angeschweißt hatte. Um sechs Uhr morgens ging er dann aufs Seil. Er war ungestört, niemand sah ihn, bis auf einmal ganz tief unter ihm ein Taxifahrer auf ihn aufmerksam wurde. Ein Verkehrsstau bildete sich, der sich nach und nach viele Blocks weit nach Norden fortsetzte. Polizeibeamte stürmten die beiden Dächer, konnten Philippe aber nicht vom Seil bringen. Er legte sich schließlich flach auf dem Stahlseil zur Ruhe, zum Schlafen sozusagen, weil ein Polizeihubschrauber gefährliche Turbulenzen erzeugte.

Philippe hebelte für mich irgendwann später in Paris tief in der Nacht einen Gullydeckel auf und führte mich in sein heimliches Reich der unendlichen Tunnels und Kammern unter der Stadt ein. In einer großen Kammer liegen dort säuberlich geschichtet Tausende von Gebeinen, in einer anderen Kammer Schädel aus einer fernen Pestzeit. In einer anderen Nacht waren wir unterwegs mit einem sechzig Meter langen Kletterseil und einem Haken, Philippe wollte mit mir das Dach der gotischen Kirche St. Eustache im Viertel von Les Halles erkunden.



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