Ist das ein Mensch? by Primo Levi

Ist das ein Mensch? by Primo Levi

Autor:Primo Levi [Levi, Primo]
Format: epub
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Die Untergegangenen und die Geretteten

Was bisher berichtet wurde und was noch zu berichten sein wird, ist das zwielichtige Leben im Lager. Unter so harten Bedingungen, zu Boden gedrückt, lebten viele Menschen unserer Tage, doch jeder nur für eine verhältnismäßig kurze Zeit. Darum könnte man sich vielleicht die Frage stellen, ob es denn recht sei, daß von diesem ungewöhnlichen Menschendasein überhaupt ein Andenken bleibe.

Auf diese Frage möchte ich doch mit Ja antworten. Denn ich bin überzeugt, daß kein menschliches Erleben ohne Sinn ist und eine Analyse nicht verdient, ja, daß man sogar dieser besonderen Welt, von der ich berichte, Grundlegendes abgewinnen kann, mag es auch nicht immer positiv sein. Man erwäge einmal, daß das Lager, und zwar in beachtlichem Maße, auch eine riesige biologische und soziale Erfahrung gewesen ist.

Tausende von Individuen, voneinander verschieden nach Alter, Stand, Herkunft, Sprache, Kultur und Sitten, sperre man hinter Stacheldraht und unterziehe sie dort einer Lebensweise, die konstant, kontrollierbar, für alle identisch ist und unterhalb aller Bedürfnisse liegt: Kein Experimentator könnte sich etwas Rigoroseres ausdenken, um zu ermitteln, was vom Verhalten des Lebewesens Mensch im Kampf ums Leben wesensbedingt und was erworben ist.

Ich glaube nicht an den so augenfälligen und einfachen Schluß, daß der Mensch von Natur aus so brutal, egoistisch und töricht sei, wie er sich zeigt, wenn ihm jeder zivilisatorische Überbau entzogen wird, und daß der Häftling demzufolge nichts anderes sei als der Mensch ohne Hemmungen. Ich glaube lediglich, man kann hier schlußfolgern, daß Entbehrung und größtes körperliches Leiden viele Gewohnheiten und viele soziale Regungen zum Verstummen bringen.

Bemerkenswert scheint mir allerdings dies zu sein: Es erweist sich, daß es zwei ganz besonders klar voneinander geschiedene Kategorien von Menschen gibt, Gerettete und Untergegangene. Andere gegensätzliche Arten (Gute und Böse, Weise und Törichte, Feige und Tapfere, Unglückliche und Glückliche) sind bei weitem nicht so klar voneinander geschieden, machen nicht den Eindruck, so angeboren zu sein, und lassen vor allen Dingen zahlreiche und komplexere Zwischenwertungen zu.

Diese Unterscheidung ist im normalen Leben längst nicht so augenfällig; hier kommt es nicht oft vor, daß ein Mensch sich verliert, denn für gewöhnlich ist er nicht allein, und sein Aufstieg wie sein Abstieg ist mit dem Schicksal seiner Mitmenschen verknüpft.

So stellt es eine Ausnahme dar, wenn jemand grenzenlos an Macht zunimmt oder in einem fort von Niederlage zu Niederlage bis zum Ruin hinabsinkt. Auch verfügt jeder für gewöhnlich über so viel geistige, körperliche und auch finanzielle Reserven, daß ein Schiffbruch, ein Versagen vor dem Leben noch weniger wahrscheinlich ist. Dazu kommt noch, daß durch Gesetz und moralisches Bewußtsein, durch das innere Gesetz also, ein merklicher Ausgleich geschaffen wird; in der Tat gilt ein Land für um so zivilisierter, je umsichtiger und wirksamer seine Gesetze sind, die den Elenden daran hindern, allzu elend zu sein, und den Mächtigen, allzu mächtig.

Doch im Lager verhält sich das anders: Hier wird der Kampf um das Überleben ohne Erbarmen geführt, denn jeder ist verzweifelt und grausam allein. Wenn irgendein Null Achtzehn strauchelt, findet er keinen, der ihm die Hand reicht; wohl aber findet er einen, der



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.