Ich hab das Paradies gesehen: Mein Leben (German Edition) by Reichel Achim

Ich hab das Paradies gesehen: Mein Leben (German Edition) by Reichel Achim

Autor:Reichel, Achim [Reichel, Achim]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Rowohlt E-Book
veröffentlicht: 2020-09-14T16:00:00+00:00


Das Aufkeimen von heimischer Subkultur – Kiev Stingl

W ährend einer der vielen Branchenpartys, die es in den 70ern noch zu feiern gab, hatte ich eine interessante Begegnung mit einem elegant auftretenden Werbeagentur-Typen, welcher mir von seinem genialen jüngeren Bruder erzählte, der so eine Art deutscher Undergrounddichter und obendrein auch noch ein begnadeter Songschreiber sein sollte. Ein Dichter als Songschreiber? Das weckte mein Interesse und ließ mich an Leonard Cohen oder auch Bob Dylan denken. Ich schlug vor, sein genialer Bruder möge mich in den nächsten Tagen einmal besuchen und dann würden wir mal sehen.

Als es an meiner Wohnungstür klingelte, traf es mich zunächst etwas unvorbereitet. Wer da vor mir stand, schien das strikte Gegenteil des smarten Werbers zu sein. Eine abenteuerlich anmutende Gestalt, zu der nur noch ein gut gesetztes Filmlicht fehlte. Ein Typ etwa meines Alters, in einem weiten Flanellhemd, zu groß bemessenen Cordhosen, die von einem um die Hüften geschlungenen Hanfseil gehalten wurden und über den Schuhen aufgekrempelt waren. Gerade so, als hätte der Look der Straßenjungs aus Charles-Dickens-Romanen durch ihn eine modische Renaissance erfahren. «Hallo, ich bin Kiev, hab gehört, du interessierst dich für meine Songs?» Er hatte eine brüchige Raucherstimme, die so klang, als gehörte sie dem Synchronsprecher eines verwegenen B-Movies.

Wir gingen in mein Zimmer für musikalische Heimarbeit, und ich war gespannt, was mich erwarten würde. Während unseres Gesprächs wurde schnell deutlich, dass er mit einem Vokabular unterwegs war, das auf einen Sohn aus gutem Hause schließen ließ. Obwohl seine Art zu reden hin und wieder von einer gewissen Szene-Schnoddrigkeit gefärbt war, dämmerte es mir, dass ich es mit so etwas wie einem sprachgewandten Intellektuellen zu tun hatte, der es vermochte, von Camus und Sartre eine Brücke zu Ginsberg, Kerouac und Burroughs zu schlagen. Mir schienen seine literarischen Querverweise ein wenig hochtrabend, aber deswegen waren sie nicht weniger spannend.

Kiev sortierte den Stapel seiner zahlreichen Manuskriptseiten, und als eine Ordnung gefunden war, fragte er mich, ob es okay wäre, sich eine von den umherstehenden Akustikgitarren ausleihen zu dürfen. Ich griff nach der Gibson J 160, strich einmal über die Saiten, um mich zu vergewissern, dass sie nicht verstimmt war, und reichte sie ihm. Als er zu spielen begann, schlug er einen Rhythmus an, der von einer Abfolge immer gleicher Akkorde getragen war und dabei einen für meinen Geschmack ansprechenden Groove ergab. Nach einiger Zeit des Einschwingens begann er aus heiserer Kehle seinen Text zu zelebrieren, als wäre es eine rituelle Beschwörungsformel eines in Trance gefallenen Schamanen: «Tierisch, in die Bars zu gehn – Tierisch, wenn dich Babys sehn – oh ja, es törnt wenn alles klappt und die Kleine sich wünscht dass sie dich hat …»

Okay, hier mochte es einer, in die Bars zu gehn, und erzählte davon, dass es mit Gefahr verbunden war. Was mit einem harmlosen Flirt begann, endete in einer Tragödie. Wenig Grund zur Freude, klingt nach echtem Leben, dachte ich mir, und nachdem der Song ausgeklungen war und ich noch meinen Gedanken nachhing, drosch er übergangslos auf die Gitarre ein, als wäre er



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