Gebrauchsanweisung für Neapel und die Amalfi-Küste by Morese Maria Carmen

Autor:Morese, Maria Carmen [Morese, Maria Carmen]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783492972048
Herausgeber: Piper
veröffentlicht: 2015-05-19T16:00:00+00:00

Sotterranea:

unter Neapels Erde

Walter Benjamin nannte Neapel wegen seines Bodens, der aus Lava und Tuffstein besteht, die »poröse Stadt«. Unter der Erde befinden sich von den Phlegräischen Feldern bis hin zum Stadtzentrum unzählige Grotten und Höhlen. Allein im Stadtviertel Stella werden 62 unterirdische Hohlräume gezählt, mit einer Fläche von insgesamt 160 000 Quadratmetern, das heißt vier Quadratmeter pro Einwohner. Im Bezirk Chiaia sind 32 Kavernen entdeckt worden, 28 sind es im Posillipo und 34 zwischen der Via Toledo und dem Spanischen Viertel. Nicht alle Höhlen haben einen natürlichen Ursprung. Die alten Römer ließen einige Tunnel bauen, um die Wege zwischen Hafen und Hügel zu verkürzen. Ein absolutes Muss ist der Besuch der Grotte des Seianus, eines Tunnels, der die römischen Patriziervillen mit der bezaubernden Bucht der Gaiola verband. Zu besichtigen ist die Grotte auf Anfrage.

Die Neapolitaner sprechen auch von einer »vertikalen Stadt«. Sie spielen damit auf die unterschiedlichen historischen Schichten, die über die Jahrhunderte hinweg übereinandergewachsen sind, an. An vielen Orten Neapels, beispielsweise an der hübschen Piazza Bellini und sogar in der Aula Magna der Universität Neapel, in der sogenannten sala delle mura greche, kann eine frühere, untere Schicht der Stadt in Augenschein genommen werden: griechische Mauern aus Tuffsteinblöcken, Geschäfte und Werkstätten aus dem sechsten Jahrhundert vor Christus.

Ein guter Eindruck von der komplexen Morphologie der Stadt ist vor allem an der Baustelle an der Piazza Municipio zu gewinnen. Schon seit einigen Jahren wird hier eine neue U-Bahn-Station gebaut. Die neue Bahnlinie soll ab 2014 den Hauptbahnhof Garibaldi mit dem Zentrum um das Rathaus verbinden. Doch die Arbeiten gehen nur langsam voran, da Fachleute immer wieder auf archäologische Funde stoßen. Während ich an diesem Buch schreibe, gleicht die Baustelle einer Art Freilichtmuseum: Das großflächige Areal, das auf die antike Urbanisierung zurückgeht, erstreckt sich zwischen Rathaus und Meer. An dieser Stelle befand sich der römische Hafen, wie die Entdeckung von drei gut erhaltenen Schiffen belegen konnte. Die Reste einer Maueranlage stammen dagegen aus der Zeit der Aragonesen im fünfzehnten Jahrhundert. Dank der Tavola Strozzi, dem berühmten großformatigen Gemälde (1464), das die Architektur der Stadt vom Castel dell’ Ovo bis zur Piazza Mercato präzise zeigt, konnten die Fachleute die Nutzung der verschütteten Gebäude, vorwiegend Türme und Paläste reicher Aragonesen, mit Sicherheit bestimmen.

Die riesige Baustelle ist zur Ausgrabungsstätte und Touristenattraktion zugleich geworden. Stadtführungen und schaulustige Urlauber halten hier täglich an. Der Fund hat auch unmittelbar wirtschaftliche Folgen gehabt: Die vielen nordafrikanischen Straßenverkäufer sind von der nahen Via Toledo kurzfristig hierher umgezogen und bieten nun ihre bunten, gefakten Prada-Taschen auf den Holzdielen der Aussichtsplattform an.

War früher eine archäologische Entdeckung als Grund für einen Baustopp gefürchtet, zeigen heute die Bauherren der öffentlichen Verkehrsbetriebe ein großes Interesse, die Funde zu pflegen. Neben der zuständigen Behörde des Ministeriums für Baudenkmäler wurde auch die archäologische Abteilung der Universität Neapel zurate gezogen. Und die Architekten – unter ihnen Koryphäen wie der Portugiese Alvaro Siza – wurden aufgerufen, ihr Projekt zu überarbeiten und die sensationellen Ausgrabungen in den modernen U-Bahnhof so weit wie möglich zu integrieren.

Besonderes Aufsehen erregte die Ausgrabungsstätte unter dem

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