Zu Fuß durch ein nervöses Land. Auf der Suche nach dem, was uns zusammenhält by Jürgen Wiebicke

Zu Fuß durch ein nervöses Land. Auf der Suche nach dem, was uns zusammenhält by Jürgen Wiebicke

Autor:Jürgen Wiebicke [Wiebicke, Jürgen]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783462316421
Herausgeber: Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


Die restlichen Kilometer bis Billerbeck, das zwischen Coesfeld und Münster liegt, laufe ich zügig durch, abgesehen von ein paar kurzen Stopps an Süßkirschenbäumen am Wegesrand, die voller Früchte hängen, aber von niemandem abgeerntet werden. Ich habe eine kindische Freude daran, die Kerne möglichst weit zu spucken, vielleicht weil ich mich so sehr auf meine nächste Verabredung freue. Die Philosophin Susanne Boshammer, mit der ich heute verabredet bin, zieht sich regelmäßig nach Billerbeck ins Haus ihrer verstorbenen Großeltern zurück, wenn sie in Ruhe nachdenken und schreiben will.

Wenige haben mich in den vergangenen Jahren in meinem Denken so beeinflusst wie sie. Nicht, weil sie für eine bestimmte Gesinnung steht, sondern für eine innere Haltung. Alle paar Monate hatten wir Gelegenheit, uns auszutauschen. Ich habe noch eine Äußerung von ihr im Ohr, die sie selbst vermutlich längst vergessen, mich aber sehr bewegt hat. Damals hatte sie mich aufgefordert, mal einen Selbsttest vorzunehmen, ob ich in den vergangenen fünf Jahren in einer wesentlichen Frage meine Position geändert hätte. Mir war bald klar, worin die Tücke dieser Frage bestand. Sie wollte nicht meine Standhaftigkeit prüfen. Im Gegenteil, wenn mir jetzt kein Beispiel einfiele, würde ich mich vor mir selbst intellektuell blamiert haben. Zum Glück fiel mir eins ein, ich war regelrecht erleichtert. Nicht wenige aus ihrer Zunft üben sich gern in der Kunst der Beharrlichkeit. Sie argumentieren oftmals über viele Jahre geradezu überselbstbewusst für die eigene unverändert gebliebene Position und wollen dadurch Punktsiege über ihre Kontrahenten erringen, dass sie deren Argumente regelrecht durch den Wolf drehen. Susanne bringt dagegen aus tiefster Überzeugung die so fabelhafte wie seltene Bereitschaft in jedes Gespräch mit ein, auf der Stelle die eigene Meinung zu ändern, wenn vom Gegenüber etwas Klügeres kommen sollte. Was bei ihrem scharfen Verstand vermutlich nicht allzu häufig der Fall sein wird. Ihr Fachgebiet ist die Ethik, nicht die Besserwisserei.

Susanne zeigt mir das kleine Haus ihrer Großeltern mit dem schönen Garten drum herum. Mit diesem Ort verbindet sie viele angenehme Kindheitserinnerungen. Seitdem das Haus ihr gehört, hat sie alles unverändert gelassen, stößt immer noch auf überraschende Hinterlassenschaften ihrer Großeltern. Im Inneren könnte man sofort einen Film über die 70er-Jahre drehen. Susanne berichtet freimütig von ihrem schlechten Gewissen, das sie plagt, weil doch hier Flüchtlinge wohnen könnten. Sie sei nicht angewiesen auf den Wohnraum, folglich sei dies für sie ein Ort des Luxus, der in diesen Zeiten fragwürdig sei. Aber eben eines Luxus, an dem sie sehr hänge. Ich versuche, ihr das schlechte Gewissen auszureden, bin aber innerlich froh, einen Menschen neben mir zu haben, der mein Gefühl teilt, dass sich momentan in unglaublicher Geschwindigkeit die Welt um uns herum so verändert, dass wir persönlich auch nicht einfach unser bisheriges Leben werden fortsetzen können.

Ich erzähle ihr von meiner gestrigen Begegnung mit Pater Elmar im Kloster. Mich interessiert nämlich, in welchem Verhältnis sie ihre Disziplin, die Ethik, in der es um Begründungen für moralisches Handeln geht, das sich nicht allein auf Konventionen und Traditionen stützen lässt, zur Religion sieht. Müssen heute die Ethiker das leisten, was früher das Geschäft der Priester war? Susanne schüttelt den Kopf.



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