Eigensinn macht Spaß by Hesse Hermann

Eigensinn macht Spaß by Hesse Hermann

Autor:Hesse, Hermann [Hesse, Hermann]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: insel-verlag
veröffentlicht: 2014-03-14T23:00:00+00:00


Der Schritt vom Tier zum Menschen

Die Zähmung des Menschen, seine Entwicklung vom Gorilla zum Kulturwesen, geht einen langen, langsamen Weg. Die praktischen, in Sitte und Gesetz festgelegten Errungenschaften sind zweifelhaft, jede Gelegenheit fördert zähnefletschende Atavismen zutage und macht alles scheinbar für immer Erreichte wieder hinfällig. Wenn wir das vorläufige Ziel der Menschwerdung in der Erfüllung der geistigen Forderungen suchen, welche seit Zoroaster und Laotse von den geistigen Führern der Menschheit aufgestellt worden sind, dann müssen wir sagen, daß die heutige Menschheit noch unendlich viel näher beim Gorilla als beim Menschen steht. Wir sind noch nicht Menschen, wir sind nur auf dem Wege zum Menschentum.

Vor einigen tausend Jahren hat das religiöse Gesetz eines hochstehenden Volkes den grundlegenden Satz aufgestellt: »Du sollst nicht töten.« –

Und immer wieder werden wir Gläubigen der Zukunft jene alte Forderung erheben: »Du sollst nicht töten.« –

Auch wenn alle Gesetzbücher der ganzen Welt einmal das Töten verbieten werden (einbegriffen das Töten im Krieg und das Töten durch den Henker), wird die Forderung niemals verstummen. Denn sie ist die Grundforderung jedes Fortschrittes, jeder Menschwerdung. Wir töten so viel! Wir töten ja nicht nur in den dummen Schlachten, in den dummen Straßenschießereien der Revolution, in den dummen Hinrichtungen – wir töten auf Schritt und Tritt. Wir töten, indem wir begabte junge Menschen aus Not in Berufe gehen lassen, für die sie nicht geeignet sind. Wir töten, indem wir vor Armut, Not, Schande die Augen zudrücken. Wir töten, indem wir aus Bequemlichkeit abgestorbenen Einrichtungen in Gesellschaft, Staat, Schule, Religion gelassen zusehen und Billigung heucheln, statt ihnen entschlossen den Rücken zu kehren. Wie für den konsequenten Sozialismus das Eigentum ein Diebstahl ist, so ist für den konsequenten Gläubigen unserer Art jedes Nichtanerkennen von Leben, jede Härte, jede Gleichgültigkeit, jede Verachtung nichts anderes als Töten. Man kann nicht nur Gegenwärtiges töten, sondern auch Zukünftiges. Mit einem bißchen witziger Skepsis kann man in einem jungen Menschen eine Menge Zukunft töten. Überall wartet Leben, überall blüht Zukunft, und wir sehen immer nur wenig davon, treten vieles davon ständig mit Füßen. Wir töten auf Schritt und Tritt.

Jeder einzelne von uns aber hat in bezug auf die Menschheit nur eine Aufgabe! Nicht das Ganze der Menschheit ein Stückchen zu fördern, nicht eine einzelne Einrichtung zu verbessern, nicht eine einzelne Art des Tötens abzuschaffen ist meine und deine Aufgabe, Mitmensch, so hübsch und verdienstlich dies alles auch ist. Unsere Aufgabe als Menschen ist: innerhalb unseres eigenen, einmaligen, persönlichen Lebens einen Schritt weiter zu tun vom Tier zum Menschen.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.