Die Verlorenen von New York by Susan Beth Pfeffer

Die Verlorenen von New York by Susan Beth Pfeffer

Autor:Susan Beth Pfeffer
Die sprache: de
Format: mobi
Herausgeber: Carlsen Verlag
veröffentlicht: 2011-07-31T07:19:06+00:00


ZEHN

Montag, 29. August

»O Alex!«, rief Julie und warf sich ihrem Bruder weinend in die Arme.

Alex blickte auf seine kleine Schwester hinunter. In den drei Monaten, seit das alles passiert war, hatte er sie noch kein einziges Mal weinen sehen oder auch nur hören. Jammern, klagen, schmollen, schreien und zetern, das ja, aber niemals weinen. Nicht, als sich abzeichnete, dass weder ihr Vater noch ihre Mutter je zurückkommen würden. Nicht, als Bri fortgegangen war. Nicht, als sie von Onkel Jimmys Abreise erfahren hatte. Und auch nicht, wann immer sie hungrig, einsam oder verängstigt gewesen war. Und nun stand sie hier und weinte ohne jeden ersichtlichen Grund.

»Was ist denn los?«, fragte er und führte sie sanft vom Schulgebäude weg. »Ist jemand gestorben?«

Julie schüttelte den Kopf, aber sie konnte nicht aufhören zu weinen, und ihre Tränen trafen Alex ins Herz, mehr, als die von Bri es je getan hatten.

»Der Garten«, brachte sie schließlich mühsam heraus. »Übers Wochenende ist alles erfroren. Alles, das ganze Gemüse. Auch meine grünen Bohnen. Ich wollte so gern, dass du meine grünen Bohnen isst, und jetzt sind sie alle tot.«

Alex sah die toten Bohnen in endlosen Reihen im Yankee-Stadion aufgebahrt. »Du weinst wegen der grünen Bohnen?«, fragte er. »Letzten Freitag hatten wir doch noch welche, aus der Dose.«

»Ich hasse dich!«, schrie Julie. »Du verstehst überhaupt nichts!«

»Ich versteh jede Menge«, sagte Alex. »Ich verstehe, dass du traurig bist, schließlich hast du den ganzen Sommer in diesem Garten gearbeitet.« Er war stehen geblieben, doch die umherhuschenden Ratten veranlassten ihn, weiterzugehen. »Du bekommst aber weiterhin dein Essen, oder?«, fragte er. »Du kannst doch nichts dafür, dass du jetzt keine Arbeit mehr hast.« Er wollte lieber nicht so genau über die Folgen nachdenken, falls Julie kein Mittagessen mehr bekam.

»Keine Ahnung«, schniefte Julie. »Ist mir auch egal. Ich wär sowieso am liebsten tot.«

»Nein, wärst du nicht«, wies Alex sie zurecht. »So etwas sagt man nicht. So etwas denkt man nicht einmal.«

»Du kannst mir nicht vorschreiben, was ich denken soll«, sagte Julie, aber wenigstens hörte sie auf zu weinen. »Ich war so gern im Garten. Und der ist uns nur wegen dieser Kälte eingegangen. Eigentlich haben wir August, aber ich muss Wintermantel und Handschuhe anziehen, und in meinem Garten ist alles erfroren. Und ich hasse Leichen! Ich hasse sie!«

Alex konnte es ihr nicht verdenken. Sie waren gerade an einer vorbeigekommen, die nun schon seit einer Woche vor einer Pizzeria lag, völlig von den Ratten zerfressen. Zu Anfang, als die ersten Leichen auf den Straßen auftauchten, waren sie immer innerhalb eines Tages weggeschafft worden. Inzwischen war jedoch nicht mehr erkennbar, nach welchem Rhythmus oder System die Sanitätsmannschaften vorgingen. Immer mehr Menschen starben, aber die Fahrten zum Krematorium wurden weniger, und die Toten gehörten inzwischen zum Straßenbild. Gut fürs Leichen-Shopping, aber für sonst nichts.

»Wenn es im August schon so kalt ist, wie soll es da erst im Dezember werden?«, fragte Julie.

Alex zuckte die Achseln. »Keine Ahnung«, sagte er. »Vielleicht haben sie bis dahin einen Weg gefunden, die Asche aus der Luft zu filtern. Die Wissenschaftler arbeiten sicher schon daran.



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