Die Schneekönigin (German Edition) by Wolfgang und Heike Hohlbein
Autor:Wolfgang und Heike Hohlbein [Hohlbein, Wolfgang und Heike]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: arsEdition
veröffentlicht: 2015-10-01T16:00:00+00:00
5. Kapitel
Die beiden ungleichen Räuber hatten am Waldrand auf sie gewartet. Gerda war zwar ein bisschen bang vor dem Augenblick gewesen, in dem sie dem Räubermädchen und seinem seltsamen Vater wieder begegnete. Aber das Pferd hatte sie beruhigt und ihr versichert, dass sie von ihnen nichts zu befürchten hätte. Irgendwie beruhigte sie das aber nicht wirklich. So erstaunlich sprechende Tiere ihr auch immer noch vorkamen – woher sollte sie denn wissen, ob es nicht auch lügende Tiere gab?
Die beiden Räuber warteten im Schutz der verschneiten Büsche auf sie, sagten aber kein einziges Wort, sondern bedeuteten ihr lediglich mit knappen Gesten, sich ihnen anzuschließen. Ein bisschen merkwürdig war es schon, dass sie sie dabei in die Mitte nahmen, genau wie sie es wohl mit einer Gefangenen tun würden. Gerda enthielt sich jeglichen Kommentars dazu. Aber ihr kamen nun doch die ersten Bedenken, ob sie wirklich klug beraten gewesen war, sich ihnen einfach so anzuschließen.
Eine Stunde lang ritten sie durch den Wald, dann noch eine weitere Stunde und auch noch eine dritte. Als es über den verschneiten Baumwipfeln zu dämmern begann, brach Gerda endlich das bange Schweigen, in dem sie die ganze Zeit zwischen dem ungleichen Paar geritten war.
»Wohin bringt ihr mich?«
Der Räuber maß sie nur mit einem seltsamen Blick, doch seine Tochter sagte: »In unsere Räuberhöhle, wo wir dich kochen oder am Spieß braten werden. Das haben wir noch nicht ganz entschieden.«
»Lass dich von ihr nicht auf den Arm nehmen«, sagte das Pferd. »Das findet sie lustig.«
»Ich nicht«, grummelte Gerda.
Das Räubermädchen sah sie verwirrt an, doch sein Vater schüttelte mit einem schmalen Lächeln den Kopf. »Sie spricht mit dem Pferd. Anscheinend hat sie ein kleines Abschiedsgeschenk bekommen.«
»Sie hat sie die Sprache der Tiere gelehrt?«, empörte sich seine Tochter. »Das können wir bis heute nicht!«
»Und das ist auch ganz gut so«, antwortete der Räuber. »Willst du wirklich immer wissen, was alle über dich denken?«
»Nein, das will sie nicht«, sagte Gerdas Pferd.
»Natürlich will ich das!«, protestierte das Räubermädchen. »Das ist nicht fair!«
»Hör lieber auf deinen Vater«, sagte Gerda.
Der Räuber warf ihr einen bösen Blick zu, und seine Tochter starrte sie so finster an, als hätte sie etwas wirklich Schlimmes gesagt. Aber beide schwiegen.
»Was?«, fragte Gerda.
Sie bekam auch darauf keine Antwort, doch nach einer kurzen Weile wiegte ihr Pferd ein paar Mal den Kopf und sagte dann: »Oh, oh, das war jetzt aber gar nicht klug.«
»Ach nein? Und warum nicht?«
»Weil es nicht ihr Vater ist«, antwortete das Pferd mit einem amüsierten Wiehern, »sondern ihre Mutter.«
»Aber sie hat …«
»Einen Bart. Ja, ja, ich weiß«, unterbrach sie das Pferd hastig. »Und du solltest jetzt besser nicht weitersprechen. Mich verstehen sie vielleicht nicht, aber dich schon, weißt du?«
Gerda beschloss, auf den Rat des Pferdes zu hören, zumal die Blicke des Räubermädchens zunehmend durchdringender und unangenehmer wurden.
Sie hatten ihr Ziel mittlerweile fast erreicht. Vor ihnen am Rand einer großen verschneiten Lichtung lag das, was das Mädchen wohl gerade gemeint hatte, als es von einer Räuberhöhle sprach: ein sehr großes Haus mit zahlreichen Erkern, Winkeln und Dachschrägen, das einmal prachtvoll gewesen sein musste, sich nun aber in einem Stadium fortgeschrittenen Verfalls befand.
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