Die letzte Grenze by Kapka Kassabova

Die letzte Grenze by Kapka Kassabova

Autor:Kapka Kassabova
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783552059214
Herausgeber: Paul Zsolnay Verlag
veröffentlicht: 2018-07-19T16:00:00+00:00


Als ich die Brücke überquerte, sah ich, dass die ursprüngliche Pflasterung erhalten war. Autos und Fußgänger mischten sich, wie sie es immer getan hatten. Ich ging die 295 Meter bis zu dem Nobelrestaurant »Die Brücke«, oben feines griechisches Essen und unten Glücksspielautomaten, wo die Süchtigen gekrümmt und hohläugig im Kunstlicht dasaßen und Knöpfe drückten und fette, eunuchenartige Croupiers mit Geldbündeln herumschlenderten.

Etwas weiter entfernt auf dieser Seite der Brücke, wo sich das alte, ärmere Christenviertel Gebran (Ungläubige) befunden hatte, waren von internationalen Unternehmern mit komplexer Reputation die größten Casinos auf dem Balkan hingestellt worden. Das harte Durchgreifen des türkischen Staates gegen öffentliche Vergnügungen trieb die Leute über die Grenze. Nach den Mega-Casinos-in-Progress war die Stadt zu Ende; danach kam das in polnischem Besitz stehende Gut Katarzyna, ein riesiges elegantes Weingut, in dessen Innenräumen erstaunliche erotische Wandgemälde von in dionysische Orgien verstrickten Phantasiegestalten zu bewundern waren. Der Name des Weinguts erinnerte anscheinend an die Tochter des abwesenden Besitzers, die jung bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Die Weingärten erstreckten sich wie eine Fata Morgana über die Hügel, so weit das Auge reichte, und man hätte nicht erraten, dass dies bloß eine Generation zuvor militarisierte Sperrzone gewesen war. Der alte Grenzposten war in ein Bürogebäude umgewandelt und in elegantem Rosa gestrichen worden. In der Todesfurche reiften nun Cabernet, Merlot und Malbec.

Wie Edirne war die Seidenstadt eine Stadt dreier Länder; unmittelbar vor dem griechischen Grenzposten befand sich die Absteige für die Lastwagenfahrer, die Ventsis Kumpel gehörte, wo die Frauen nicht hingingen, wenn sie nicht etwas zu verkaufen hatten. Alte Schilder, »Freihandelszone«, aus den 1990ern und ausgeweidete Häuschen der Grenzposten tüpfelten das flache Hinterland, wo kilometerweit keine Seele zu erblicken war, außer ein streunender Hund, nicht allzu hungrig, wie ich hoffte. Während ich über die Felder ging, wuchs sich mein Frösteln der Unruhe allmählich zu Panik aus. Ich wandte mich um und ging rasch zu den Ausläufern der Stadt zurück, begann bald zu laufen, und dieses Mal fühlte sich der Hund verpflichtet, mir nachzurennen.

Ein halbes Jahrhundert im Kalten Krieg war dieses fruchtbare Gebiet dreier Länder eine Pufferzone gewesen. Nichts wuchs, niemand kam hierher auf Besuch, aber der Verkehr lief weiter über den Buckel der steinernen Brücke: Lastautos, türkische Gastarbeiter auf dem Weg nach und von Westdeutschland, ausländische Touristen. Die Einheimischen lebten in einem Treibhaus beiseite gezupfter Vorhänge und paternalistischer Privilegien, denn dies war eine Stadt der durch Bestechung reich gewordenen Offiziere. Der europäische Verkehr ging an ihren Türen vorbei, aber in einem tantalusartigen Stillhalten war es den Zivilisten verboten, mit irgendjemandem zu sprechen, der ein ausländisches Kennzeichen besaß.

Einmal, so erzählte mir eine pensionierte Lehrerin, hielt ein tschechisches Auto vor ihrer Tür. Es war in den 1970ern. Das Paar war durstig und hatte sich auf dem Weg nach Istanbul verirrt. Sie gab ihnen Wasser, Käse und Tomaten. Die Tschechen wollten eben weiterfahren, als die Miliz eintraf und ein langes Verhör begann.

»Und so habe ich nie wieder irgendwelchen Passanten etwas angeboten«, schloss die pensionierte Lehrerin.

Sie war an ihrer Schule Propagandistin gewesen und hatte einen unerschütterlichen Glauben



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