Die Geschwister von Neapel by Franz Werfel

Die Geschwister von Neapel by Franz Werfel

Autor:Franz Werfel [Franz Werfel]
Die sprache: deu
Format: epub


Annunziata flog nach Hause. Dort fand sie nichts vor. Es vergingen volle vier Tage, ehe die Nachricht eintraf, die ihr Lauro in der Kirche von Sant Eframo angekündigt hatte. Es war ein dicker Brief, der sich füllig anfaßte wie ein lebendiges Wesen. Annunziata stand gerade am Herde, als ihr ihn Giuseppe mit herablassender Verwunderung übergab: Welch merkwürdige Einführung bei der königlichen Post, daß sie nun auch Briefe befördert, die nicht an Don Domenico adressiert sind, sondern an eines der Kinder! Sie schickte den Alten sofort mit einem Auftrag davon. Da der auswärtige Dienst des Haushaltes bekanntlich die einzige Bemühung war, der sich Giuseppe widerspruchslos unterzog, nahm er auch diesen Auftrag mit gnädigem Nicken an, ohne von seiner Taubheit nützlichen Gebrauch zu machen. Annunziata vergaß, die brutzelnde Pasticcia di maccheroni vom Feuer zu rücken. Die Mädchen bereiteten dieses Gericht fast zu allen Mahlzeiten. Wie jeglicher Italiener liebte Papa die Abwechslung weder in der Musik noch im Essen.

Sie saß auf dem Küchenschemel und wühlte mit gierigen Händen in den Blättern des Briefes. Wie ein Tier sein Futterfleisch zuerst mit der Zunge von allen Seiten abschleckt, ehe es zubeißt, so kostete Annunziata zuerst an vielen Stellen mit kosenden Augen Lauros Schrift, ehe sie im Zusammenhang zu lesen begann. Das Schreiben war vom dreißigsten Mai datiert und trug den Poststempel São Paulo. Lauros schriftliche Ausdrucksweise unterschied sich grundlegend von der Placidos, und nicht etwa nur durch die geringere Sorgfalt und durch den Mangel künstlerischen Stils. Vor allem fehlte jede grüblerische Betrachtung und der abstrakte, schlußziehende Sinn, wenn sich auch hie und da, schamhaft fast, Gedanken einschlichen. Dafür zeichnete den Briefschreiber Leichtigkeit aus und ein anschaulich heiterer Ton, der stellenweise sogar an Humor heranreichen konnte. Die Geschwister waren bisher noch nie getrennt gewesen, und so empfing denn Annunziata zum erstenmal im Leben einen Brief von Lauro. Dennoch las sie ihn richtig, das heißt, sie ließ sich durch Lauros Eindeutigkeit nicht über das Zweideutige, Heimliche, Mühsame hinwegtäuschen, das zwischen den Zeilen stand.

Eine weitere Analyse erübrigt sich aber, da es notwendig sein wird, die brasilianischen Lebensberichte aller drei Brüder in die Folge der Geschehnisse einzuschalten, und zwar jeweils nach dem Zeitpunkt ihres Einlangens.

»Meine liebe Zia! Ich teile Dir mit, daß es uns allen gut geht und daß wir bisher gesund geblieben sind. Ruggiero hat großes Glück gehabt. Das kommt hauptsächlich daher, daß sich der Lump (briccone) um vier Jahre älter gemacht hat, trotz seinem Paß. Hoffentlich imponiert Dir das ebenso wie mir. Commendatore Eccheverria, der Papa herzlich grüßen läßt, war sehr nett zu uns, das heißt, er lud uns zu sich ein und schrieb einen Brief an den Konsul in São Paulo. Er meinte, hier lasse sich augenblicklich mehr erreichen als in Rio. Signor Eccheverria stellte auch Ruggiero dem Fazendeiro Attilio Salvafede vor, der ein italienischer Millionär ist und im Staate São Paulo eine der größten Kaffeeplantagen besitzt. Sie liegt sehr weit ab von dieser Stadt, woher ich Dir schreibe, weiter als Neapel von Florenz etwa, schon in der Nähe eines anderen Staates, der Paraná heißt. Du



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