Die Bestimmung by Erik Kellen

Die Bestimmung by Erik Kellen

Autor:Erik Kellen [Kellen, Erik]
Die sprache: deu
Format: epub
Amazon: B00ARK1Q4M
veröffentlicht: 2013-12-01T16:00:00+00:00


Vater und Tochter

Nicht eine Sekunde wich Nilah von seiner Seite, achtete immer darauf, dass er noch atmete, noch lebte. Sie konnte gar nicht aufhören, sich sorgenvoll Lirans Gesicht anzusehen. Diese gebogenen Brauen, Lippen, das Kinn und die charismatische Nase. Er musste sehr schöne Eltern gehabt haben. Hin und wieder nickte sie dann doch für Sekunden ein. Diese Momente waren schlimmer, als über ihn zu wachen, denn die Bilder, die wie zuckendes Wetterleuchten über sie kamen, waren grauenvoll und blutig.

Ihr Vater hatte per Telefon eine Nachtapotheke ausfindig gemacht und fuhr los, um die medizinischen Mittel, die Peter ihm aufgeschrieben hatte, zu besorgen.

«Wenn ich zurück bin, müssen wir über sehr viele Dinge reden», hatte er gesagt, sich seine Jacke geschnappt und war losgefahren. Er hatte erschöpft ausgesehen und traurig.

Nilah hatte schwere Gewissensbisse. Die letzten kleinen Scharmützel zwischen ihnen waren lange her. Nilah war oft ziellos, frustriert und von vierundzwanzig Stunden ca. achtzehn auf Grund so vieler Dinge sehnsüchtig oder traurig. Das Schlimme daran war, dass sie eigentlich wusste, warum. Aber was nützte es einem Gefangenen, wenn er begriff, dass er in einem Kerker saß, aber nicht, wie er dort hineingekommen war und vor allem, wie er wieder 'rauskommen sollte.

Ihr erster Ausbruchsversuch war drei Jahre her. Sie hatte sich grell blaue Strähnen ins Haar färben lassen. Ihr Vater hatte sie mit großen Augen angeschaut, als sie mit der Veränderung nach Hause kam, den Kopf geschüttelt und Tee für sie beide gemacht. Eine Bemerkung darüber blieb aus. Gleiches galt für ihren Monate später eingeschlagenen Richtungswechsel in Sachen Mode, der plötzlich zu Beerdigungs-Schwarz tendierte. Stattdessen bekam sie zwei Karten für ein Pink-Konzert in Amsterdam. Wie ihr Vater die Karten so spät noch aufgetrieben hatte, wusste sie nicht.

So ging das dann eine lange Weile. Sie kam mit ihren ersten null Punkten nach Hause – Latein, Nilah hatte nur ihren Vornamen auf das Blatt geschrieben, nichts weiter – und er bezahlte ihr den Fortgeschrittenen-Tauchkurs, den sie schon so lange hatte machen wollen. Irgendwann hatte sie ihn gefragt, warum er verdammt noch mal nie wütend auf sie wurde.

«Wenn Du 'mal richtig Mist baust, Fräulein, dann lernst Du auch meine andere Seite kennen, das kann ich Dir versichern», war die ruhige Antwort gewesen, und das hatte Nilah mehr beeindruckt als tausend kleine nervtötende Reibereien.

Nilah hatte sich auch nie für ihren Vater geschämt. Er hatte nie Bundfaltenhosen getragen oder dämliche Slipper, sondern immer nur verwaschene Jeans und Turnschuhe, denen man ansah, dass sie nicht nur spazieren geführt wurden. Er hatte keinen Bierbauch, stand nicht auf grässliche Musik. Außerdem hatte er ein bisschen was von einem Schauspieler. Ein Hauch von nicht greifbarer Verwegenheit. Ihre Mathelehrerin fragte deshalb ein bisschen zu oft, wie es ihm denn so gehe.

Nilah hatte sich nie geweigert, ihn vor anderen zum Abschied oder zur Begrüßung zu küssen. Das war ein ungeschriebenes Gesetz. Liebesentzug war tabu! Wenn einem nicht danach war, o.k., aber nicht, weil man nicht den Mut hatte, es zu tun. Das ist jämmerlich, hatte er 'mal gesagt. Durch die vielen Reisen war Nilah oft allein geblieben oder hatte ebenso unkonventionelle Aufpasser gehabt wie ihr Vater einer war.



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