Die Antiquiertheit des Menschen 1 by Günther Anders

Die Antiquiertheit des Menschen 1 by Günther Anders

Autor:Günther Anders [Anders, Günther]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Philosophie, Philosophen, Günther Anders, Technik, Gesellschaft, Anthropologie
ISBN: 9783406726538
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2018-05-16T22:00:00+00:00


§22

Das erste Axiom der Wirtschafts-Ontologie:

Das nur Einmalige ist nicht. – Exkurs über das Photographieren

Wir sagten eben: Die Tatsache, daß nicht nur unsere Erfahrungen modelliert werden, sondern sogar unsere Bedürfnisse, stelle die Maximalleistung der Matrize dar. Und das ist, solange wir nur uns selbst als Objekte, bzw. Opfer der Modellierung im Auge haben, gewiß zutreffend, da es ja eine tiefer liegende Schicht als die unserer Bedürfnisse wohl kaum gibt. Aber vollständig ist damit die Matrizenleistung noch nicht bezeichnet.

Und zwar deshalb nicht, weil die Matrizen nicht nur uns prägen, sondern auch die Welt selbst. Diese Behauptung klingt erst einmal, da sie nur die Tatsache der Serienproduktion anzuzeigen scheint, selbstverständlich. Wie wenig selbstverständlich sie aber ist, wird in dem Augenblicke deutlich, in dem wir uns wieder zu unserem ursprünglichen Beispielsgebiete: zur Phantomproduktion in Rundfunk und Fernsehen, zurückwenden. Dann bedeutet nämlich unsere Behauptung, daß die künstlichen Modelle von «Welt», als deren Reproduktionen die Sendungen uns erreichen, nicht nur uns und unser Weltbild prägen; sondern die Welt selbst, die wirkliche Welt; daß die Prägung einen bumerang-haften Effekt hat; daß die Lüge sich wahrlügt, kurz: daß das Wirkliche zum Abbild seiner Bilder wird.

Um den eigentümlichen Vorgang zu verstehen, durch den das Wirkliche zum Abbild seiner Bilder wird, haben wir ziemlich weit zurückzugreifen.

Zu Beginn hatten wir ja festgestellt, daß die ins Haus gelieferten wirklichen oder angeblichen Ereignisse durch diese ihre Lieferung zu Waren, und zwar, da jedes Ereignis in zahllosen Exemplaren ins Haus geliefert wird, zu Massenwaren werden. Das Verhältnis zwischen Ereignis und Sendung ist also ein Unterfall des spezifischen Verhältnisses zwischen Modell und reproduzierter Ware.

Fragt man nun aber, was von den beiden: Modell oder Reproduktion real sei – «real» im wirtschaftlichen Sinne –, so lautet die Antwort: die Reproduktion, die reproduzierte Ware. Denn nur dieser zuliebe existiert ja das Modell. Und zwar ist die Ware um so realer, in je mehr Exemplaren sie sich verkaufen läßt; deren Modell ist wiederum nur insofern real, als es auf Grund seiner Vorbildqualität die «Realisierung» maximaler Verkäufe seiner Reproduktionen möglich macht. Gäbe es eine ausgebildete Wirtschafts-Ontologie, also eine Lehre vom Sein, wie dieses aus der Perspektive heutiger Produktion, und heutigen Absatzes erscheint, so würde deren erstes Axiom lauten: «Realität wird durch Reproduktion produziert; erst im Plural, erst als Serie, ist ‹Sein›.» – Und in seiner Kehrform: «Einmal ist keinmal; das nur Einmalige ‹ist› nicht; der Singular gehört noch zum Nichtsein.»[71]

Das Axiom klingt widersinnig und ist tatsächlich schwer zu verstehen. Und zwar deshalb, weil, was es als «seiend» anerkennt, weder das «Allgemeine» ist, noch das «Einzelne», sondern etwas Drittes: die Serie; weil es also zu der klassischen Nominalismus-Realismus-Alternative, die uns vertraut ist, quer steht. Aber das verhindert nicht, daß das Axiom uns Heutigen, und gerade den Unphilosophischsten unter uns, tief in den Knochen sitzt:

Wer Gelegenheit hatte, Reisende, namentlich solche aus höchst industrialisierten Ländern, unterwegs, in Rom oder Florenz, zu beobachten, der wird bemerkt haben, in welchem Grade es sie irritiert, Einmaligkeiten zu begegnen[72]; also jenen großen historischen Gegenständen, die als einzige Exemplare in der Serienwelt herumstehen. Tatsächlich tragen diese Reisenden auch



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