Der geduldete Klassenfeind by Peter Pragal

Der geduldete Klassenfeind by Peter Pragal

Autor:Peter Pragal [Pragal, Peter]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: SAGA Egmont
veröffentlicht: 2016-01-22T00:00:00+00:00


Abschied und unerwartete Rückkehr

Bevor wir im Februar 1979 in der Ho-Chi-Minh-Straße unsere Koffer packten, besuchte uns ein Fernsehteam. Fast fünf Jahre waren wir in Ost-Berlin, nun stand der Umzug nach Bonn bevor. Joachim Jauer, Korrespondenten-Kollege vom ZDF, wollte wissen, mit welchen Gefühlen und welchen Erfahrungen wir die DDR verließen. Die ganze Familie war in den Beitrag für das Magazin »Kennzeichen D« einbezogen. Er filmte mit seinen Leuten unsere Tochter Katharina im Kindergarten. Er begleitete unseren Sohn auf dem Schulweg und ließ ihn aus dem Pionierkalender vorlesen. »Am 7. Oktober feiert unsere Republik ihren Geburtstag. Viele schmückten ihre Häuser mit der Arbeiterfahne und der Fahne der Republik. Früh fand eine Parade unserer Nationalen Volksarmee statt«, trug Markus vor. Unser Sohn werde in der Bundesrepublik wohl nie Beamter werden können, spöttelte Günter Gaus nach der Ausstrahlung des Beitrages während eines Abendessens bei Freunden. »Dem geht der Begriff Nationale Volksarmee zu glatt über die Lippen.« Das war eine, wenn auch nicht ganz ernst gemeinte Fehlprognose. Heute ist unser Sohn Markus Jurist und Ministerialbeamter.

Meine Frau und ich waren während der TV-Aufnahmen in einer gedrückten Stimmung. In ein paar Wochen würden wir nicht mehr hier sein. Wir würden Freunde zurücklassen. Menschen, die wir mochten und mit denen wir uns gut verstanden. Mit Kindern so alt wie unsere. Die Grenze würde es schwer machen, den vertrauten Umgang zu pflegen. Gewiss, wir könnten sie besuchen. Zwei-, dreimal im Jahr, vielleicht. Aber würde das reichen, eine langsame Entfremdung aufzuhalten? Der alltägliche Umgang würde uns fehlen. Das alles ging uns durch den Kopf, als wir vor der Kamera saßen. So intensiv wie in Ost-Berlin werde sie künftig wohl nie mehr leben, sagte meine Frau. Die Menschen, die wir hier kennengelernt haben, gingen ernsthafter und ehrlicher miteinander um, als ich es von München gekannt habe, sagte ich. »Die Bindungen gehen tiefer, und daher kommt auch dieses etwas wehmütige Gefühl, das ich zurzeit habe.«

Am 6. Februar, reichlich drei Wochen vor meinem beruflichen Neustart für den Stern in Bonn, erschien mein letzter Artikel in der Süddeutschen Zeitung. »Die Luft riecht jetzt vertrauter«, lautete die Überschrift, eine Bilanz meiner fünfjährigen Tätigkeit. Ich verwies auf die notorische Geheimniskrämerei der Funktionäre und verglich die Wirkung der gelenkten Ost-Medien mit der Resonanz auf die Berichterstattung der West-Korrespondenten. »Während sich parteikonforme Publizisten unablässig befleißigen, den SED-Staat wirklichkeitsfremd zu verschönen, zeichnen auswärtige Beobachter mehr und mehr ein Bild der Gesellschaft, in dem sich die Bürger zumeist auch wiederfinden.« Die Menschen, über die ich schrieb, sollten sich verstanden wissen. Darauf kam es mir an. Die Bewertung meiner Beobachtungen und Ansichten durch ostdeutsche Freunde und Bekannte war mir mindestens so wichtig wie das Echo meiner Leser in der Bundesrepublik. »Die Bereitschaft, den sozialistischen Staat aus seiner eigenständigen Entwicklung zu erklären«, so bekannte ich in meinem Abschiedsartikel, »gehört zu den wichtigsten Veränderungen, die ich im Laufe von fünf Jahren an mir selbst erfahren habe.« Mit der Schärfe des Blicks für die Unzulänglichkeiten der DDR sei das Verständnis für die Menschen gewachsen, die sich in der politischen Ordnung arrangieren müssten. Anzeichen für einen baldigen Zusammenbruch der SED-Herrschaft habe ich damals nicht wahrgenommen.



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