Der Fliegenpalast (German Edition) by Kappacher Walter

Der Fliegenpalast (German Edition) by Kappacher Walter

Autor:Kappacher, Walter [Kappacher, Walter]
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Bookwire GmbH
veröffentlicht: 2011-11-07T23:00:00+00:00


AUF EINMAL fühlte er sich imstande, Harry Kessler den Brief zu schreiben, den er schon lange hatte schreiben wollen. Wie sehr hatte er sich gefreut, daß der Graf Kessler im letzten Herbst ihr langes Schweigen gebrochen und ihm, von einer Schiffsreise aus, einen so berührenden Brief geschrieben hatte … Der unmittelbare Anlaß war offenbar ein Besuch des Grabes von Karl I. in Funchal gewesen, wo der unglückliche Monarch vor zwei Jahren verstorben war …

Mein Lieber … Wie sehr fehlt mir gegenwärtig ein überlegener, zupackender Geist wie Deiner für hilfreiche Gespräche … Nachdem ich die Neufassung des Turms in der Schweiz so ziemlich abschließen konnte, beschäftige ich mich zur Zeit mit der von Richard Strauss angeregten politischen Komödie, welche im dritten Jahrhundert in Athen spielt. Davon habe ich Dir seinerzeit in Berlin einmal erzählt. Jene Gespräche mit Dir während unserer gemeinsamen Arbeit am Rosenkavalier waren einzigartig; die Bedeutung Deiner Einfälle, Deiner Kritik ist mir erst viel später …

Plötzlich wurde ihm klar, warum dieses so lange bestehende freundschaftliche Verhältnis mit Kessler nicht halten konnte: Seine empfindlichen Nerven hatten das hitzige, angespannte Temperament Kesslers immer weniger ertragen können. Er konnte auch nicht vergessen, was Eberhard von Bodenhausen ihm einmal in einem vertraulichen Gespräch mitgeteilt hatte: Kessler sei der Ansicht, er, H., habe gar kein konstruktives Talent, um eine dramatische Handlung zu erfinden und zu ordnen, und deshalb lehne er sich an vorhandene Szenarien an. Sei aber ein wirksames Szenario vorhanden, so habe Hofmannsthal die Gabe, dieses in wunderbarer Weise lyrisch zu beseelen, den Figuren und Situationen Leben einzuhauchen …

Das freut mich aber, hatte er gedacht, daß der Graf Kessler mir ein lyrisches Talent zuschreibt – während ich selber immer öfter fürchte, meine lyrische Gabe zu verlieren. Vor Jahren war er auf ein Wort von Hegel gestoßen, dem er teilweise zustimmen konnte. Es hieß sinngemäß, der lyrische Dichter sei die exemplarische Verkörperung des jungen Menschen, der von den Hochflügen seiner Seele berauscht sei. Die Adoleszenz sei die Zeit, in welcher der Mensch, auf sich selbst bezogen, unfähig sei, sich seiner Umwelt ungetrübt bewußt zu werden. Und sobald der Künstler die Schwelle von der Unreife zur Reife überschreite, verlasse er oft auch den Bereich des Lyrischen für immer. Als Ausnahme fiel ihm sofort Valéry ein, der, gleich alt wie er, vor kurzem die umfangreiche Gedichtsammlung Charmes veröffentlicht hatte.



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