Der Blumenkrieger by Jeanette Erazo Heufelder

Der Blumenkrieger by Jeanette Erazo Heufelder

Autor:Jeanette Erazo Heufelder [Heufelder, Jeanette Erazo]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2016-01-23T16:00:00+00:00


Emanuel kennt meine überzogene Auslegung dessen, was ich für Privatangelegenheiten halte. Sie ist eine Folge des menschlichen Ausnahmezustands, in dem ich seit Jahren lebte.

Ich trenne die verschiedenen Welten, in denen ich mich bewege, fein säuberlich wie koscheres Essen. Es gibt keinen einzigen Berührungspunkt zwischen ihnen. Seit langem habe ich keine Freundschaften mehr geschlossen. Mit den meisten Bekannten von früher habe ich mich überworfen. Emanuel ist der Einzige, der mir aus meiner Internatszeit geblieben ist. Ich beherrsche einfach nicht den ausbalancierten Umgang mit Menschen. Möglicherweise eine Folge der Versuche meiner Mutter, mich von ihnen fernzuhalten. Ich fordere für mich ungeteilte Aufmerksamkeit, die ich nur von ihr erhielt. Und nicht einmal immer von ihr. Wenn sie einen neuen Mann an ihrer Seite wähnte, vergaß sie mich. Und weil es mich kränkte, im Leben der Anderen nur eine Randfigur zu spielen, begann ich, die Leute vor den Kopf zu stoßen und zu beleidigen, möglicherweise auch ungerechte Urteile über sie zu fällen.

Zumindest fühlten sich seit dem entsetzlichem Unglück einige meiner früheren Gefährten dazu aufgerufen, mir die Rechnung für altes Fehlverhalten aufzumachen. Auf der Mordkommission erfuhr ich, dass einer meiner ehemaligen Schulfreunde den Reportern bereitwillig Auskunft über mich gegeben hatte. Er soll ihnen erzählt haben, dass ich einem Mädchen mit einer giftigen Pfeilspitze das Wort Verrat in die Stirn geritzt und ihm verboten hätte, ihre Wunde zu verarzten. Er hätte alles getan, mich an dieser Wahnsinnstat zu hindern, was bei mir einen wahren Wutausbruch hervorgerufen und zur Folge gehabt hätte, dass wir unsere Beziehung abbrachen.

Georg kann damit rechnen, dass seine Lügen nicht auffliegen. Einem Mörder trauen die Leute alles zu. Bei mir ist angeblich abartig, was normalerweise als typische Jungenphantasie gilt, als das, was einen echten Jungen überhaupt erst ausmacht: Marterpfahlspiele und Blutsbrüderrituale.

Hinter Georgs blutrünstiger Gräuelgeschichte steckt eine Anekdote, bei der es um das Ende einer Jungenfreundschaft geht. Wir waren beide Mitglieder der Bären-Kameradschaft, einer jener Gemeinschaften, die es in jedem modernen Landerziehungsheim gibt. Wir verbrachten die Nachmittage in Gruppen, wanderten, übten uns im Umgang mit Pfeilen und Messern, schlossen Blutsbrüderschaften, lasen uns gegenseitig Sagen und Märchen vor und lösten Streit nach indianischer Sitte, zumindest nach dem, was wir alle darunter verstanden.

Ich traf mich damals mit einem Mädchen aus der Bären-Kameradschaft regelmäßig nach dem Abendbrot auf einem Hügel oberhalb der Schlafgebäude bei einer knorrigen Eiche, meinem Lieblingsplatz. In der Gruppe galten wir als ›Verliebte‹. Als ich auf dem Weg zu meiner Verabredung einmal von meinem Kunstlehrer aufgehalten und gebeten wurde, der Theaterprobe der jüngeren Schüler zuzusehen, beauftragte ich Georg, dem Mädchen auszurichten, dass wir uns erst in einer Stunde treffen könnten. Eine Stunde später stieg ich den Steinweg zur Eiche hinauf und sah Georg schon von weitem mit lässig angewinkeltem Bein auf dem untersten Ast sitzen und lebhaft auf das Mädchen einreden, das gegen den Baumstamm gelehnt hinunter ins Tal blickte. Sie bemerkten mich nicht einmal. Wie um mich zusätzlich zu provozieren, hatte die Abendsonne die Szene oben am Hügel in ölig glänzende Farben getaucht, was die vertrauliche Stimmung zwischen beiden nochmals hervorhob und zu einem besonders wirkungsvollen Bild drapierte.



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