Der blaue Siphon by Widmer Urs

Der blaue Siphon by Widmer Urs

Autor:Widmer, Urs [Widmer, Urs]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Neue Literatur
ISBN: 978-3-257-60053-7
Herausgeber: Diogenes Verlag AG
veröffentlicht: 0101-01-01T00:00:00+00:00


[67] 2

Vor Jahren, als ich so klein war, dass jeder mich sah, um die drei Jahre alt, stand ich glücksgebläht auf dem Fensterbrett meines Zimmers und sah in die Welt hinaus. Meine Mutter neben mir staunte genauso. »Dort! Dort!«, riefen wir und klatschten in die Hände. Vögel flogen aus einem strahlenden Himmel heraus, kurvten um uns herum und verschwanden im Blau, als sei es durchlässig oder habe geheime Löcher. Die Mutter und ich sahen uns verblüfft an, verblüfft und begeistert. Weit weg stand jener Turm voller unsichtbarem Wasser, und noch weiter hinten begrenzte ein Hügelzug den Horizont. Ein Getreidefeld voller Kornblumen und Mohn. Ich war, als die Sonne über den Horizont stieg, vom Summen der Bienen und dem Zwitschern der Vögel geweckt worden, diesem herrlichen Getöse, ihrem Kratzen und Scharren im Storenkasten über meinem Bett. Obwohl es so früh war, dass der Tau an den Grashalmen glitzerte, stand die Mutter bereits in den Bohnen und besprühte sie mit einem blauen Nebel, den sie aus [68] so etwas wie einem Rucksack pumpte. Auch ihre Hände waren blau. Ich rannte in dem Gesprüh herum, wurde auch blau und schaute den blau bestäubten Mäusen zu, die auf ihren Wegnetzen zum nächsten Loch flohen. Maus sein! Natürlich gab es Katzen – wir hatten auch ein paar –, aber die hatten die Hunde, die sie auf die Bäume jagten. Ich hetzte unsern sogar, Jimmy, den Terrier, der niemandem ein Haar krümmte. Bellend fegte er hinter einer der Katzen drein, die, ohne wirklich zu rennen, sich auf den untersten Ast eines Apfelbaums zurückzog. Ich lachte und tanzte und winkte der Sonne. Kroch durch Gebüsche und sprach mit Kaninchen. Meine Mutter war jetzt beim Wasserfass und füllte Gießkannen. Ich ging zu ihr hin, hielt mich an ihrem Rock, auch als sie zu den Tomaten ging und sie goss. Roch den dumpfen Geruch der grünen Früchte, der Blätter. Erst als ich ganz nasse Beine hatte, tapste ich zum Fass zurück und hob Moos von den Balken weg, auf denen es stand. Duftendes Moos, in dem Käfer krabbelten; die Unterseite war erdig und voller Wurzeln und Würmer. »Schau dort, der Storch«, rief meine Mutter, und ich sah ihn, wie er, den Hals weit vorgestreckt, dem Horizont zustrebte. Die Sonne stand jetzt hoch und war gelb geworden. Schwalben flogen. Ich sprang dem Plattenweg entlang, von Platte zu [69] Platte, ohne ein einziges Mal mit den Füßen das Gras zwischen ihnen zu berühren. Kein Tau mehr an den Halmen. Die Steine glühten so, dass ich stets gleich weitermusste. Eidechsen huschten, und ich lauerte lange vor einer Höhle in einer Mauer und sah endlich im violetten Schatten einen Kopf, aufmerksame Augen, eine flinke Zunge. Dann wagte sich die ganze Echse in die Sonne hinaus – sie hielt mich für ein Stück Natur –, und ich schaute auf ihren geschuppten Hals, dessen Haut sich im Rhythmus des Herzschlags blähte. Als ich sie fangen wollte, war sie natürlich schneller als meine Hand und verschwand wie ein Blitz zwischen den Lavendeln. Ich stand auf, klopfte



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