Das Lied der Klagefrau by Serno Wolf

Das Lied der Klagefrau by Serno Wolf

Autor:Serno, Wolf [Serno, Wolf]
Die sprache: deu
Format: epub, mobi
ISBN: 978-3-426-41212-1
Herausgeber: Knaur eBook
veröffentlicht: 2011-09-14T22:00:00+00:00


»Ich sag euch, ihr Burschen, Fankfurt ist schöner als Göttingen! Wenn’s nur nicht so nah bei Frankreich wär. In Paris brodelt es wie imWäschekessel! Wenn das so weitergeht, knüpft das Volk bald seinen Sechzehnten Ludwig an der Straßenlaterne auf und die Marie-Antoinette gleich mit. Nun ja, es ist eben überall etwas Wermut bei dem Zucker. Komm, Julius, nimm dir noch von den Kartoffeln, und du, Amandus, hast schon vier von den eingelegten Heringen verschlungen, muss es unbedingt noch ein fünfter sein? Siehst ja bald selbst wie einer aus!«

Wie immer führte die Witwe beim Essen ein strenges Regiment, was nichts anderes hieß, als dass die Unterhaltung im Wesentlichen von ihr bestritten wurde. »Der liebe Herrgott soll mich Lügen strafen, aber in Göttingen gibt es mehr Nörgler und Meckerer als Blätter am Baum. Kroppzeug und Gesindel ist das, sag ich euch. Empfindet es als Zumutung, dass es zu bestimmten Zeiten vor seiner Tür kehren muss, dass es keinen Mist und Unrat auf die Straße werfen darf, dass es seine Hunde nicht frei herumlaufen lassen soll und dass es verboten ist, nach dem Schlachten Blut auf die Straße zu kippen. Hannes, du sollst essen und nicht schmatzen. Dass es dir schmeckt, glaub ich auch so. Und dann die Feuerschutzgeräte! Alle naslang muss wieder ein Löscheimer aus Leder angeschafft werden, wenn man die Gnade hat, ein Bürger dieser Stadt sein zu dürfen. Wenn das so weitergeht, kann man sich gleich den Bettelstab dazukaufen.«

»Warum zieht Ihr nicht einfach fort, Mutter Vonnegut, wenn es so schrecklich in Göttingen ist?«, fragte Amandus mit vollem Mund.

»Und was würde dann aus euch, ihr Burschen? Einer muss doch da sein, damit ihr nicht über die Stränge schlagt. Ansonsten stört mich nichts in meinem Frohsinn, auch wenn ich wenig darüber lachen kann, dass irgendwelche Spaßvögel in den Löwenbrunnen am Rathaus eine tote Ziege geworfen haben und irgendwelche Burschen es für notwendig fanden, vor dem Anatomischen Theater am Wehnder Tor einen hölzernen Schandesel aufzustellen. Das sind Eulenspiegeleien. Was soll das alles? Die Zeiten ändern sich, ich sag’s euch.«

Keiner am Tisch ging darauf ein, womit die Witwe auch nicht gerechnet hatte, denn sie setzte ihre Rede ohne Pause fort: »Mein Sohn in Frankfurt schreibt, dass der Sechzehnte Ludwig Generalstände aus Adligen, Geistlichen und Bürgern eingerichtet hätt, damit die über neue Steuern entscheiden. Ja, da frag ich euch: Was will der Ludwig denn noch auf dem Thron, wenn er nichts mehr allein entscheiden darf! Ich hab’s schon gesagt, der baumelt bald am Ast, und das Unterste kehrt sich zuoberst. Demnächst werden noch die Bienen hinter dem Honigtopf hersummen, die Pferde den Reiter besteigen und die Frauen an der Georgia Augusta studieren wollen.« Die Witwe sah Abraham an.

Abraham blickte beschwörend zurück.

»Aber lassen wir das. Alles hat seine Zeit. Mein Sohn schreibt, ein gewisser Rousseau will, dass alle Bürger sich zu einem gemeinsamen Ich zusammenschließen – der liebe Herrgott mag wissen, wie so was aussieht – und dass dieses Ich einen gemeinsamen Willen haben soll und der gemeinsame Wille das Wohl des Staates zum Ziel hätt und dass der Staat wiederum die Freiheit von jedermann garantiert.



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