Das Drama des begabten Kindes by Alice Miller

Das Drama des begabten Kindes by Alice Miller

Autor:Alice Miller [Miller, Alice]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783518374504
Amazon: 3518374508
Goodreads: 836203
Herausgeber: Suhrkamp
veröffentlicht: 1978-12-31T23:00:00+00:00


DIE INTROJIZIERTE VERACHTUNG IM SPIEGEL

DER PSYCHOANALYSE

I. Die gebrochene Artikulierung des Selbst

im Wiederholungszwang

Wenn wir uns nicht darauf beschränken wollen, dem Patienten intellektuelle Einsichten zu vermitteln oder – wie es in manchen Psychotherapien durchaus nötig sein kann – seine Abwehrorganisation zu stärken, dann wird es uns nicht erspart bleiben, mit jedem Patienten eine neue Entdeckungsreise zu machen. Was entdeckt wird, ist nicht ein abgelegenes Land, sondern eines, das es noch gar nicht gibt und das erst im Laufe der Entdeckung und des Bewohnens anfängt zu existieren. Einen Patienten auf diesem Wege zu begleiten, ist ein faszinierendes Erlebnis – vorausgesetzt, daß wir nicht versuchen müssen, dieses Land mit den uns vertrauten Begriffen zu »bevölkern«, vielleicht um unserer Angst vor dem Unbekannten, Noch-nicht-Verstandenen auszuweichen. Sein wahres Selbst findet der Patient stückweise im Erleben der eigenen Gefühle und Bedürfnisse, wenn der Analytiker diese auch da, wo er sie noch nicht versteht, akzeptieren und respektieren kann.

Ich werde in Seminaren oder Einzelkontrollen manchmal gefragt, wie man mit »unerwünschten« Gefühlen, z. B. mit dem Ärger, umgehen sollte, den der Patient zuweilen im Analytiker weckt. Ein empfindsamer Analytiker wird diesen Ärger natürlich spüren. Die Frage ist: Soll er ihn unterdrücken, um den Patienten nicht abzuweisen? Aber dann spürt der Patient den unterdrückten Ärger, ohne ihn fassen zu können, und ist verwirrt. Soll der Analytiker ihn aussprechen? Dann ist durch dieses Agieren der Patient gekränkt und verunsichert. Ich habe erfahren, daß, wenn ich nicht versuche, auf solche Fragen mit Ratschlägen zu antworten, das Gespräch mit dem Kollegen eine viel tiefere und persönlichere Dimension bekommt. Die Frage nach dem Umgang mit dem Ärger und anderen Gefühlen der Gegenübertragung stellt sich nämlich nicht mehr, wenn man von der Voraussetzung ausgeht, daß alle Gefühle, die der Patient während seiner Analyse im Analytiker weckt, zu dem unbewußten Versuch gehören, ihm seine Geschichte zu erzählen und sie gleichzeitig vor ihm zu verbergen, d. h. sich vor neuen, unbewußt erwarteten Manipulationen zu schützen. Ich setze immer voraus, daß der Patient gar keine Möglichkeit hat, mir diese Geschichte anders zu erzählen, als genau in dieser Weise, wie er es tut. Insofern gehören alle in mir auftauchenden Gefühle, auch der Ärger, zu seiner verschlüsselten Sprache und sind von großem heuristischen Wert. Sie helfen zuweilen, die verlorenen Schlüssel zu den noch unsichtbaren Türen zu finden.

Es gab einmal eine Diskussion in der Fachliteratur darüber, wie man es merkt, ob Gefühle der Gegenübertragung nicht Ausdruck der Übertragung des Analytikers seien. Wenn der Analytiker den emotionalen Zugang zu seiner eigenen Kindheit freibekommen hat, dann wird er die Gefühle der Gegenübertragung leicht von den eigenen kindlichen Gefühlen (also von der eigenen »Übertragung«) unterscheiden können. Gefühle der Gegenübertragung sind wie ein kurzes Aufleuchten, wie Signale, deutlich mit der Person des Analysanden verbunden. Werden sie sehr intensiv, quälend und dauerhaft, so haben sie mit einem selbst zu tun. Die Gegenübertragung signalisiert entweder die einstigen Einstellungen der Primärobjekte des Patienten (bzw. die unbewußte Ablehnung dieser Rolle beim Analytiker) oder die nicht gelebten, abgespaltenen Gefühle des Kindes, die der Patient im Laufe der Analyse an den Analytiker delegiert.



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