Das deutsche Europa by Ulrich Beck

Autor:Ulrich Beck [Beck, Ulrich]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Publizistik, Politik, Deutschland, Europa, Euro-Krise
ISBN: 9783518737958
Herausgeber: Suhrkamp
veröffentlicht: 2012-08-14T22:00:00+00:00

Von der Last der Geschichte zur Last des Lehrmeisters

Während die anderen Länder immer tiefer in ihren Schulden versinken, ist Deutschlands Wirtschaft einstweilen weiterhin auf Erfolgskurs. Das schlägt sich auch in der Stimmungslage hierzulande nieder. In Politik, Medien und Öffentlichkeit kündigt sich ein neuer Nationalstolz an, der auf dem Wissen um die eigenen Leistungen aufbaut. Man könnte dieses neue Selbstverständnis auf die Formel bringen: Wir sind zwar nicht die Herren, dafür aber die Lehrmeister Europas.

Und nicht nur in bezug auf die Finanz- und Euro-Krise, sondern auch in anderen Bereichen – von der Ökologie bis zur Kernenergie – sehen sich die Deutschen in der Verantwortungspflicht. Sie haben das Gefühl, von Schlendrian-Nationen umzingelt zu sein. Die Spanier und Italiener, die Griechen und Portugiesen mögen uns überlegen sein, was die Lebenslust angeht. Aber ihr Leichtsinn! Ihre Leichtfertigkeit! Sie müssen endlich lernen, was Haushaltsdisziplin, Steuermoral, schonender Umgang mit der Natur bedeuten. Sie müssen verstehen, daß in der globalisierten Welt saubere Bilanzen und saubere Umwelt Priorität haben.

Was die Südländer also brauchen, ist Nachhilfe, eine Art re-education in Sachen Sparsamkeit und Verantwortungsbewußtsein. Für die meisten Deutschen ist dies eine Forderung, die sich aus den nüchternen Zahlen geradezu zwangsläufig ableiten läßt, weshalb es auch ein krasses Mißverständnis wäre, hier nur deutsche Arroganz oder deutschen Machtanspruch zu vermuten. Schließlich geht es aus Sicht der Deutschen doch nur darum, Griechen, Spanier und Italiener »fit zu machen« für den Weltmarkt. Das halten die Deutschen im Moment für ihre historische Aufgabe. Wo Helmut Kohl blühende Landschaften in Ostdeutschland versprach, wünscht Angela Merkel sich diese nun für ganz Europa.

Vielleicht ist dieses neue Selbstbewußtsein auch deshalb so wichtig, weil es die Deutschen ein Stück weit von der Last des »Nie wieder« befreit – nie wieder Holocaust, nie wieder Faschismus, nie wieder Militarismus. So erklärt sich der pädagogische Impetus der Deutschen heute auch aus der Geschichte, schließlich war es die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, nach dem großen militärischen und moralischen Desaster, als die Idee eines gemeinsamen Europa entstand. Man darf allerdings nicht vergessen, daß es nicht in erster Linie gesamteuropäische Interessen waren, die dieser Vision Auftrieb gaben, sondern das Interesse der Nachbarn an einer Einbindung Deutschlands, an der Zähmung kriegerischer Gelüste, mit der man weiteres Blutvergießen und neue Zerstörung verhindern wollte. Das war das Europa-Motiv der Nachkriegsgeneration. Die sogenannte »deutsche Frage« war eine Frage der Nachbarn, der einstigen Feinde, aber auch eine Frage, die die Deutschen an sich selbst richteten: Inwieweit haben wir die Werte des Westens – Freiheit, Kapitalismus, Demokratie – verinnerlicht? Die Antwort darauf war: Europa.

Die Deutschen haben ihre Lektion mittlerweile gelernt. Sie sind Vorzeige-Demokraten geworden, Vorzeige-Atomaussteiger, Vorzeige-Sparer, Vorzeige-Pazifisten. Sie haben einen langen, bisweilen schwierigen Weg zurückgelegt. Die Geister der Vergangenheit waren nicht immer vergangen, sondern manchmal noch auffallend lebendig. Der »ganz normale, alltägliche Faschismus« ist bis heute nicht überwunden, hier wie in anderen Ländern. Unzweifelhaft ist allerdings: Deutschland hat sich verändert. Gemessen an seiner Geschichte ist es das beste Deutschland, das wir je hatten.

Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, daß im Selbstbewußtsein vieler Deutscher heute eine Sehnsucht nach Normalität spürbar wird.

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