Chiffren im Schnee by Katharina Berlinger

Chiffren im Schnee by Katharina Berlinger

Autor:Katharina Berlinger
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783863581138
veröffentlicht: 2012-11-30T00:00:00+00:00


Unaussprechliches

«Die Beweggründe zum Selbstmord sind vielfach unsittlicher Art. Sehr viele Selbstmorde sind insofern schon lange vorbereitet, als das ganze Vorleben mit ihnen einen Abschluss findet. Insbesondere sind es geschlechtliche Unsittlichkeit und Trunksucht, die oft zu einem gewaltsamen Lebensende führen. (…) Dazu kommt der Einfluss von körperlichen und Geisteskrankheiten, die übermächtig auf den Menschen einwirken und ihn zur Selbsttötung veranlassen.»

Meyers Konversationslexikon – 1905

Es hatte die ganze Nacht über geschneit, und auch am Morgen liess es nicht nach, die Flocken fielen in einem schweren Vorhang zur Erde, der alles Licht verschluckte.

Anna erwachte mit Kopfschmerzen und brachte beim Morgenessen kaum einen Bissen herunter. Hauptgesprächsthema bei Tisch war die Geburtstagsfeier eines der Herren Offiziere, die in der Bar bis in die frühen Morgenstunden angedauert hatte. Anna hätte gerne nochmals mit Henning gesprochen, doch nun war wohl kaum damit zu rechnen, dass sie ihn vor dem späten Nachmittag zu sehen bekam.

Nach dem Morgenessen musste sie sich um Edith kümmern, die unbedingt in eine andere Kammer wollte, weil es angeblich im Dachstuhl über ihrem Bett spuken würde. Frau Göweils Geschichten begannen bereits Früchte zu tragen.

Annas Kopfschmerzen wollten nicht nachlassen. Auf dem Weg zu Lady Georgiana blieb sie auf der Treppe kurz stehen, schloss die Augen und rieb sich die Schläfen. Sie schreckte hoch; Herr Ganz stand mit einem Mal neben ihr, er hatte sie etwas gefragt.

«Ich wollte wissen, ob Sie Jost heute schon gesehen haben», wiederholte er. «Er war nicht beim Frühstück.»

«Nein, er ist mir noch nicht begegnet.» Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Das war bestimmt dumm, Jost hatte wohl nur verschlafen.

Herr Ganz machte sich mit grimmiger Miene auf nach oben.

«Ich habe den Etagenkellner angewiesen, Lieutenant Wyndham sein Frühstück zu bringen und ihm zu sagen, dass Jost unpässlich sei. Eine weitere Predigt von Lady Georgiana Darby über die Zustände in diesem Haus möchte ich mir lieber ersparen.»

Anna begleitete ihn in den Ostflügel. Herr Ganz erzählte ihr, dass Josts Zimmergenosse, ein junger Portier namens Karl, behauptete, Jost würde mit Zahnschmerzen im Bett liegen.

«Davon will ich mich nun selbst überzeugen», brummte Herr Ganz und öffnete die Tür zur Kammer. Beide Betten waren leer und ordentlich gemacht. Er trat näher und steckte seine Hand zuerst unter die eine und dann die andere Decke.

«Hier hat diese Nacht niemand geschlafen.» Er zeigte auf das Bett zu seiner Rechten. «Unerhört! Karl wollte ihn wohl decken, während er wie ein Kater von Gott weiss woher nach Hause schleicht. So geht das nun wirklich nicht.»

Sein Ton verhiess weder für Jost noch für Karl Gutes. Er eilte davon, um sich des Problems anzunehmen. Anna folgte ihm nach unten, während ihr beunruhigende Gedanken durch den Kopf gingen. Jost war in letzter Zeit so in seiner Aufgabe aufgegangen, dass dieses plötzliche Ausbleiben ihr unheimlich war. Anna konnte sich nicht vorstellen, dass er sich einer der Ausschweifungen hingegeben hatte, welche junge Männer normalerweise davon abhielten, in ihrem eigenen Bett zu schlafen.

Lady Georgiana hatte ausgerechnet an diesem Morgen beschlossen, zur Frühaufsteherin zu werden. Paget teilte Anna mit, dass Mylady Frühstück aufs Zimmer geordert habe und bereits bei ihrem Cousin weilte.



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