Auch Deutsche unter den Opfern by Stuckrad-Barre Benjamin

Auch Deutsche unter den Opfern by Stuckrad-Barre Benjamin

Autor:Stuckrad-Barre, Benjamin
Die sprache: deu
Format: epub, azw3, mobi
Tags: General Fiction
Herausgeber: eBook by Kiepenheuer&Witsch
veröffentlicht: 2010-05-07T04:00:00+00:00


[Inhalt]

Der Berliner Weihnachtsbaum

Wenn Polizisten lachen, ist Vorsicht geboten. In den meisten Fällen folgt auf dieses Lachen nämlich eine schlagartig tiefernst vorgetragene Rechtsbelehrung: Also, so geht das nicht. Denn: Da könnte ja jeder kommen. Die beiden Polizisten, die an diesem Dienstagmorgen vor einer Kleingartenkolonie in Neukölln die dort tags zuvor abgesägte und nun auf einem Schwertransporter liegende Fichte begutachten, die lachen also erstmal. Zuerst lachen sie über die Fichte, die als Christbaum für den Weihnachtsmarkt vor der Gedächtniskirche ausgewählt wurde und heute dorthin transportiert werden soll. Als richtiger Berliner hat man sich angewöhnt, jedes Jahr über diesen größten Berliner Weihnachtsbaum zu lachen: mal war er zu struppig, mal morsch, mal blieb er beim Transport unter einer Brücke hängen. Was also ist in diesem Jahr lustig am Gedächtniskirchen-Weihnachtsbaum? Nun ja, das Nadelwerk ist im unteren Baumdrittel recht bräunlich. Und Überlänge kann man ihm auch nicht attestieren.

Lokalpatriotismus in allen Ehren, aber, spricht der Polizist, vielleicht hätte man doch besser einen Baum aus Bayern oder Thüringen importiert? Egal, man ist ja nicht von der Geschmacks-, sondern von der richtigen Polizei, also mal eine Frage an den im Gehölz auf dem Anhänger turnenden, mit Seilen hantierenden Mitarbeiter des Transportunternehmens Lex, ob denn – wie es nun mal vorgeschrieben sei – jemand innerhalb der letzten Stunde die geplante Strecke abgefahren sei, um zu gucken, ob dem Baumtransport nichts im Weg stehe? Nee, irgendwie leider nicht. Der Polizist lacht noch einmal kurz fast höhnisch auf, um dann sehr ernst den Kopf zu schütteln. Tja dann – Vorschrift sei Vorschrift. Leise fluchen die Lex-Angestellten, einer von ihnen fährt also die Route ab, die anderen packen Brote und Zigaretten aus: polizeilich verordnete Pause.

Ein paar ältere Damen und Herren aus der Kleingartensiedlung stehen mit hinterm Rücken gefalteten Händen um den Tieflader herum, die Herren unterhalten sich fachmännisch über technische Details des Fahrzeugs und Schwierigkeiten beim Transport größerer Gegenstände, die Damen überlegen, wie sie diesen Baum schmücken würden. Die Polizisten kontrollieren derweil pflichtversessen weiter, sind denn überhaupt die Reifenprofile des Tiefladers in Ordnung? Ist die ganze Ladung nicht eventuell ein paar Zentimeter breiter als angemeldet? Leider kein weiterer Fehler, die Lage entspannt sich etwas, und als dann der vorausgeschickte Spähwagen meldet, dass die Strecke hindernisfrei ist, wird es versöhnlich: Polizisten und Transporteure geben einander Feuer, machen Witzchen, »Lex« heißt auf Deutsch schließlich Gesetz, also, man versteht sich jetzt gut, zieht gemeinsam über andere her, das wärmt immer: Man könne ja bei der Berliner Stadtreinigung anrufen, dass die gleich mit dem Baum zu befahrende Strecke nach dem Transport vorerst gereinigt sei, fegen doch die herunterhängenden Zweige gratis die Straßen, hehe, und übrigens, ob man den schon kenne: BSR = Bei Schnee ratlos? Hoho, nee, den kannte man noch nicht. Einigkeit auch darüber, dass der Baum keine Schönheit ist, also dann, packen wir’s.

Zur Verteidigung des Baumes sei gesagt, dass Weihnachtsbäume nie ungeschmückt (und erst recht nicht liegend und zum Transport verschnürt) beurteilt werden dürfen. Für sie gilt dasselbe wie für Damen, die man aus Versehen etwas zu früh zu einem abendlichen Vorhaben abholt



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